Montag, 1. Mai 2006
My private Tschernobyl
Ich weiß es noch wie gestern, was damals vor 20 Jahren passierte, es waren wahrhaft turbulente Zeiten. Ein Freund hatte zum Zeitpunkt der Havarie in der Nähe von Danzig Urlaub gemacht und Aale geangelt. Er brachte seine Beute zum Bundesamt für Strahlenschutz, um sicherzugehen, dass der Fisch auch essbar sei. Stattdessen musste er nicht nur den Fisch dort als mittelaktiven Atommüll entsorgen lassen, sondern auch gleich seine gesamte Anglerausrüstung und seine Gummistiefel. Eine mir bekannte Ärztin maß die Radioaktivität an Regenpfützen vor dem Göttinger Klinikum und meinte, wenn sie diese Werte in einem Labor messen würde, müsste dieses sofort wg.schwerem Störfall geschlossen werden. Der Rat der Stadt Göttinger verhandelte über Sofortmaßnahmen, wobei auch die Messwerte ein Rolle spielten, da die offiziellen Werte nicht mit den Messungen der Ärztin und anderer unabhängiger Wissenschaftler übereinstimmten, die rot-grüne Opposition also der Meinung war, wir würden mit geschönten Zahlen belogen. Vor der Ratssitzung führte ein breites Bündnis, das von Kirchens bis Autonomskis reichte, eine Demo durch, deren zentrales Anliegen die Einsicht in die Messwerte war. Nach der Schlusskundgebung versuchte Einige von uns, ich auch, in die Ratssitzung zu gehen, um dort die Debatte zu verfolgen. Daran hinderte uns eine Kette von Ordnungshütern, deren Einsatzleiter zwar sagte "Nur halten, nicht zurückdrängen", aber da hatten die wohl eine sehr eigenwillige Dienstauffassung. Jedenfalls gab es sofort Tränengas in die Fresse. Während die Leute rechts und links zu Boden gingen - ich merkte bei solchen Gelegenheiten immer nur, dass es irgendwie komisch roch - setzten sie mit dem Knüppel nach und brachten dann auch noch Rottweiler zum Einsatz. Wir zogen uns auf den Hiroshimaplatz zurück, der damals noch nach einer Kavalleriebrigade 82erplatz genannt wurde und blockierten die Kreuzung. Die Cobs reagierten darauf dergestallt, dass sie einen Omnibus in die Menschenmasse hieneinwinkten, der scheppernd über die Kästen mit kohlensäurefreiem Mineralwasser hinwegfuhr, mit denen wir die Augen unserer Macegetollschockten behandelten und den Knüppelgarden eine Schneise in die Menschenmasse bahnte. Ich glaube, dass in diesen Minuten eine ganze Reihe neuer Autonomer gebohren wurde. Junge Leute im Abialter, die eben noch kirchentagsbewegte Friedenslieder gesungen hatten, riefen erst "Aufhören! Aufhören!", dann "Schweine! Schweine!" dann "Ich bin nichts, ich kann nichts, gebt mir eine Uniform!" "Polizei, SA, SS!" und dann "Feuer und Flamme für diesen Staat!", und dann flogen die ersten Flaschen, gefolgt von Pflastersteinen. Die Gewalt eskalierte in dieser Zeit sehr schnell, aber es war mindestens zur Hälfte die Staatsmacht, die diese Eskalation vorantrieb. Pfingsten in Wackersdorf flog der BGS einen regelrechten Bombenangriff, bei dem Puma-Hubschrauber ganze Serien von Trängengaspetarden in eine Menschenmenge warfen, zu der auch Rollstuhlfahrer gehörten. Die Wasserwerfer hatten "Geschmack", wie die Bullen das nannten, d.h. es war CS-Gas beigemischt, und es wurden große Mengen CS-getränktes Wasser in die Baumkronen gesprüht, um einen Nebel zu erzeugen, der sich um den ganzen Demonstrationszug hüllte. Die Konzentration war so hoch, dass dabei die ganze Rinde von den Bäumen runterkam. Eine panische 80 000 köpfige Menge rannte eine Waldschneise herunter, bis einige quergestellte Mannschaftswagen den Weg versperrten, die von wutentbrannten Leuten umgeworfen wurden. Diese dienten später zur Begründung der massiven Polizeigewalt. Eigenartig nur, dass sie genau da standen, wo die ganzen Kameras aufgebaut waren.

Als ich später im Nachbereitungsplenum die These äußerte, wir seien hier Part einer polizeilich-medialen Inszenierung geworden, konterten mir Andere, dies seien Spartaken-Argumente. Mit dem Hinweis auf den MSB-Spartakus, die Studentenorganisation der DDR-treuen DKP, war unter Linken meist jede Diskussion beendet. Eine Genossin, die stets um Konsens und Affirmation bemüht war, wollte den Streit beenden, indem sie rief "Wir haben einen Sieg errungen, das zählt!", aber da ließ ich nicht locker. Ich höhnte, ob man etwa wie bei Asterix gesehen hätten, das wir weiße Helme einsammelten, oder schon im Radio berichtet wurde, dass die WAA nicht gebaut würde. Wir gingen an diesem Abend im Streit auseinander. Später erfuhr ich, dass ein Demonstrant, ein Asthmatiker, im Tränengasnebel zu Tode gekommen war. Toller Sieg, echt ey!


Der Hamburger Kessel machte an diesem Wochenende Schlagzeilen, weniger bekannt wurde das Schicksal einiger unserer Leute, die von einer GSG sonstwas überwältigt und an Händen und Füßen mit tief in die Haut schneidenden Plastikbändern gefesselt in eine Großgarage geworfen wurden, ohne Möglichkeit, zu trinken oder eine Toilette aufzusuchen. Die Gewalt von autonomer Seite eskalierte in der Folgezeit bis zu den Todesschüssen an der Startbahn West. Im kleinen verschworenen Zirkel appelierte ich, etwas gegen eine solch sinnlose Eskalation zu unternehmen (niemand hatte die Polizistenmorde gebilligt, aber es ging hier um die Frage, wie grundsätzlich mit Gewalteskalation umzugehen sei) und bekam von einem Militanzfan zu hören, irgendwann sei der Zeitpunkt gekommen, uns mit Panzern zu bewaffnen. Arrrgh, der Realtitätsverlust ging bei manchen Leuten schon sehr weit. Die normative Kraft des Faktischen deeskalierte
im Realen, nicht im Verbalen aber sehr zuverlässig. Der Landwirt Adi Lambke, der 10 Jahre später seinen Traktor als Waffe einsetzte, war real wahrscheinlich weitaus militanter als die autonomen Pfleger eines ritualisierten Militanzfetischs - und übrigens auch einige Wackersdorfer Bauern, die während der Pfingstunruhen die Schrotflinte geladen neben der Hoftür stehen hatten, wie uns zugetragen wurde.


In dieser stürmischen Zeit grillten die Nachbarn meiner Schwester draußen im Garten. Als Schwesterchen sie auf die Radioaktivität hinwies und dass im Radio gesagt wurde, man dürfe weder im Freien essen noch die Kinder in der Sandkiste spielen lassen noch Badeseen benutzen, da sagten die: "Junge Frau, wir haben im Zweiten Weltkrieg wochenlang ausgebombt unter den Trümmern unseres Hauses im Keller gesessen, und als kein sauberes Brot mehr da war, da haben wir die Phosphorrückstände von den Broten gewischt und das Zeug gegessen. Was soll uns denn noch passieren?"


Szenenwechsel: Pripjat, die Wohnstadt der Arbeiter des Werks. Ein Kinderspielplatz, eine einsame Schaukel, im Hintergrund der Unglücksreaktor, ein Schaukelpferd, ein Bild, das James Cameron zu einer der Schlüsselszenen in Terminator II inspirierte. Wäsche, die inzwischen seit 20 Jahren auf der Leine hängt. Eine ganze Region, die auf Jahrzehnte unbewohnbar ist. Die kahlköpfigen Kinder, die auf Raten an Leukämie oder Knochemarkskrebs sterben.
Und die Stalker: Damals, 1986, bezeichnete der Ausdruck keine nachsteigenden Leutebelästiger, sondern Freiwillige, die zu Erkundungen in die Todeszone vorstießen. Eigentlich stammt der Begriff aus Andrej Tarkowskys gleichnamigem Film nach Arkady und Boris Strugatzkys Roman "Picknick am Wegesrand" und bezeichnet Leute, die in das Sperrgebiet rund um ein gelandetes UFO vorgehen, um Kontakt mit den Außerirdischen aufzunehmen.
Heute ist Pripjat noch immer leer, Tschernobyl hingegen bevölkert -von Physikern und Ärzten.
Das Gefühl von Beklommenheit, das ich beim Anblick von Bildern des Reaktors bekomme, ist nicht sehr viel anders als das beim Anblick von Fotos der Rampe von Auschwitz.

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Dazu übrigens nochmal was Älteres bei Don:

http://rebellmarkt.blogger.de/stories/325360/

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Puh... das muss man erst mal verdauen. Aber einer der persönlichsten und für mich besten Texte, die ich rund um den Jahrestag gelesen habe. Danke für die Einblicke in eine Zeit, in der meine größte Sorge war, wie man Buchstaben schreiben lernt...

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Danke für die Aufmerksamkeit !

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