Donnerstag, 18. Mai 2006
Das "Scheitern der Multikultur"
Was bei der ganzen Debatte um Ayaan Hirsi Ali/Magan mitschwang und sozusagen die Matrix für die sich in diesem Umfeld abgelaufenen Konflikte bildete, ist die Diskussion darüber, ob die multikulturelle Gesellschaft in Westeuropa gescheitert sei. Unsereins hatte ja schon 1990 das grüne Konzept des Multikulturalismus als Multitrassismus kritisiert. Jeder Ethnie ihre Identität zu lassen, möglichst viele Moscheen, Kulturzentren und meinetwegen Pagoden bauen zu lassen und zu denken, das wird schon werden führt eher zu Ghettobildung als zu etwas Wünschenswertem. Interkulturalität, nicht Multikulturalität wäre die eigentliche Forderung, voneinander Lernen, Austausch der Kulturen untereinander, wechselseitiges Wachstum. Teilweise funktioniert das ja auch. Ich kenne genug Menschen nordafrikanischer, türkischer, persischer, kurdischer und israelopalästinensischer Herkunft (man kann durchaus beides zugleich sein), die nicht nur in Deutschland hervorragend integriert sind, sondern eine eigene kulturelle Identität entwickelt haben, die sich zwischen den Kulturen befindet. Voraussetzung dafür ist, neben der individuellen Bereitschaft, eine Umgebung, die am Austausch interessiert ist. Das Konzept des Multikulturalismus nimmt die MigrantInnen nicht wirklich ernst. Selbst wenn ihr Anderssein als Bereicherung empfunden wird, so setzt es sich häufig nicht mit den Bedingungen des Andersseins auseinander, etwa, wenn mit der Tolerierung des muslimischen Glaubens auch Sexismus und Frauenunterdrückung toleriert werden. Eine Vorstellung, die Multikultur als Bereicherung betrachtet, ohne sich differenziert mit den Problemen und sehr differierenden Interessenlagen der MigrantInnen auseinanderzusetzen, hat etwas latent Rassistisches. Da bleibt im schlimmsten Fall nichts Anderes übrig, als öfter fremdländisch zu essen und multikulturelle Stadtfeste zu konsumieren. Ganz hart und etwas überspitzt gesprochen wird die multikulturelle Gesellschaft dann zum Völkerzoo. Ich erinnere mich noch mit Belustigung an die Szene, als, vor einem Deutschkurs für Ausländerinnen, der noch nicht begonnen hatte, wartend einige extrem chic und ziemlich scharf gekleidete Libanesinnen und Iranerinnen auf zwei Frauen in tiefschwarzer Totalverschleierung losgingen, sie an den Armen festhielten und wütend auf sie einschrieen. Die Dozentin, eine naiv-ökopazifistische Grüne, ging dazwischen und ermahnte die Frauen, Toleranz walten zu lassen, wir Deutschen akzeptierten sie in unserem Lande, dann müssten sie auch konservative Muslimas akzeptieren. Darauf kam die wutentbrannte Antwort: "Hizbollah! Diese Frauen sind Hizbollahi! Die sind der Grund, dass wir unser Land verlassen mussten!" Darauf wusste die Dozentin keine Antwort.

- Meine ganzen persischen, kurdischen usw. Freunde sind Leute, die schon in der Gesellschaft ihres Heimatlandes dagegen waren. Vielleicht ist die Tatsache, dass man nicht nur einer verfolgten Minderheit angehörte, sondern bewusst für deren Rechte eintrat, und dass man als Jugendlicher gegen die Welt der Eltern rebellierte, eine besonders gute Voraussetzung dafür, wirkliche Interkulturalität auszubilden oder aber sich in hohem Maße zu integrieren, was ja nicht gleich Assimilation bedeuten muss. Einer meiner kurdisch-irakischen Freunde kehrte nach dem letzten Golfkrieg in seine Heimat zurück und hatte dort einen guten Job. Nach kurzer Zeit war er wieder hier. Das Land war ihm fremd geworden, er definiert sich jetzt als deutscher Linker
kurdischer Herkunft.

Die Lösung? Ich weiß sie nicht, aber die kulturchauvinistische "Leitkultur" kann es jedenfalls nicht sein. Beide Wege, Leitkultur und Multikulturalismus, sind bequem: Bei bestimmten Problemen wird weggeschaut. Es muss einen dritten Weg geben.

Unter anderen Aspekten hatten wir das Thema ja schon mal beim Wickel:


http://che2001.blogger.de/stories/400268/

http://che2001.blogger.de/stories/409400/

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Ich habe gerade die alten Links nochmal gelesen und festgestellt, dass "schöpferische Zerstörung" gruselig klingt. Was meinst Du damit?

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Interkulturalität
... erfordert ja das Eingehen auf andere Kulturen. Oder besser: Das Eingehen und Zugehen auf Menschen anderen kulturellen Hintergrunds. Der viel geforderte Dialog halt. Das bringt uns zu einem Kernproblem: Dialog kann dann beginnen, wenn man annimmt, dass der Gegenüber recht haben könnte. (Zitatquelle unbekannt)
Und jetzt schau sich mal einer um: Bei rechter Abgrenzungsdemagogie wie naiv-grüner Multikulti-Quatscherei wird garantiert nicht davon ausgegangen, dass des Gegenübers Erfahrungen und kultureller Hintergrund das eigene Gesellschaftsbild beeinflussen könnten oder gar dürften.

Wenn man jetzt den Blickwinkel erweitert, dann sieht man ja das gleiche überall: Der Amerikaner an sich (ok, verkürzte Sichtweise) kommt gar nicht auf die Idee, dass etwas nicht-amerikanisches recht haben könnte. Am anderen Ende der Skala sieht man dann Islamisten. Hier gibt es einen Interpretationsansatz, den ich für nachvollziehbar halte. Er läuft wie folgt:
  • Dem Islam fehlt (Bindung der Führung Staat-Religion) über Jahrhunderte so etwas wie Reformation oder Aufklärung. Mit anderen Worten: Neugier wurde bestraft. (Man kann hier seine Rückschlüsse auf die Familien- und Sexualpolitik in isalmischen Ländern ziehen - das ist aber eine ganz andere Geschichte).
  • Effekt der Bestrafung der Neugier: Gesellschaftliche und Technologische Rückständigkeit. Zuerst gespürt von den Türken im ersten Weltkrieg - Brutal-Laizismus als Folge, Gesellschaftliche Spannungen in der Türkei mit Richter-Mordversuchen als Spätfolge.
  • Da s.o. religiöse Reform auch politische Folgen hätte, wird diese nach Kräften auch jetzt noch unterdrückt. Mit der möglichen Ausnahme des Iran, wo eine ziemlich ehrgeizige Binnen-Wirtschaft auf vielen Gebieten wettbewerbsfähige Produkte herstellt, gibt keine islamisch geführten Staaten, in denen neues entsteht. Die Rückständigkeit -wirtschaftlich, politisch und militärisch wächst sich zur gefühlten Ohnmacht aus.
  • Im Gefühl der Ohnmacht ist die Religion so ziemlich das einzige, wo man sich überlegen fühlen kann. Moralisch. -> Alles Westliche ist verwerflich, gottlos, dekadent.
Hat hier jemand eine irgendwie optimistische Sichtweise auf die Dinge?

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Zumindest einen Silberstreif: Bei meinen Aufenthalten in arabischen Ländern fand ich die meisten Araber, die ich so auf den Straßen kennenlernte, unheimlich neugierig und an dem interessiert, was ich zu berichten hatte. Auch wirklich sehr offen: Bei abendlichen Wasserpfeifengesprächen im Beduinenzelt oder auf einer Terrasse in Luxor war man mit Gesprächspartnern, die man vorher nicht gekannt hatte, nach zwei Stunden beim eigenen psychoschen Eingemachten angelangt. Ein Großteil der Bevölkerungen ist ausgehungert nach Neuem. Übrigens hast Du zwei islamisch geführte Länder vergessen, wo Neues entsteht: Libyen und Libanon.

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@netbitch, "schöpferische Zerstörung": Als sich 1990 die Verschärfung bzw. letztendlich faktische Abschaffung des einklagbaren Asylrechts abzeichnete, inszenierte die Rechte eine Kampagne "Stoppt die Asylantenflut", ungeniert den Wortschatz der NS-Bevölkerungspolitik verwendend. Dem stellten wir die Kampagne "Für freies Fluten" entgegen und wandten uns damit sowohl gegen die Leitkultur als auch den Multikulturalismus. Kerngedanke war folgende Überlegung: Die alte Bundesrepublik, wie sie in den 50ern aussah, war ein entsetzlich miefiges und provinzielles, in vielen Denkmustern und Verhaltensweisen noch vom Nationalsozialismus und vom Obrigkeitsstaat geprägtes Land. Ausländische Küche war ebenso unbekannt wie (außerhalb Süddeutschlands) in Restaurants draußen sitzen oder seine Freizeit anders als im Familienzusammenhang, mit Kollegen oder im Verein zu verbringen, Homosexualität war ein Verbrechen, Oralsex eine psychiatrisch zu behandelnde Perversion, die einzig gesellschaftskonforme Form des Sexuallebens kann man mit "einmal die Woche im Dunkeln, Missionarsstellung, Frau liegt da wie ein Brett" beschreiben, von Männern wurde erwartet, sich militärisch-zackig zu bewegen. Seitdem hat eine körpergeschichtliche Entwicklung stattgefunden, die ich als partielle Befreiung und als gesellschaftliche Linksentwicklung bezeichnen würde. Linksentwicklung nicht im politischen Sinne, sondern als tiefgreifende Hedonisierung, Liberalisierung und Demokratisierung, auch Internationalisierung des Alltagslebens. Selbst ein kiffender Neocon oder ein kriegsdienstverweigernder Christdemokrat ist noch ein Bestandteil dieser strukturellen Linksentwicklung der Gesellschaft. Ermöglicht wurde diese Umwälzung der deutschen Gesellschaft durch mehrere Modernisierungsschübe, die sich vor dem Hintergrund von Wirtschaftswunder und technologischer Modernisierung abspielten und alltagskulturell verbunden waren mit dem Einzug anglo-amerikanischer Popkultur, der sexuellen Revolution nach Einführung der Antibabypille, der 68er-Revolte und dem Massenzuzug von ArbeitsmigrantInnen. Wir erhofften uns damals, dass die Massenintegration der kurdischen, Yugoslawischen, schwarzafrikanischen und ostasiatischen Flüchtlinge, mit der wir es damals zu tun hatten, zu einer ebensolchen Bereicherung und Umwälzung der deutschen Alltagskutur führen würde und natürlich auch zu einer akulturativen Veränderung der Kultur der Einwandernden. Doch der interkulturelle Dialog fand nicht statt, stattdessen das trostlose System der deutschen Flüchtlingsverwaltung. Zugegeben waren wir etwas naiv: Die Kurden, Iraner usw., die wir kannten, waren laizistische, prowestlich ausgerichtete Menschen (Kommunisten sind in diesem Zusammenhang auch prowestlich, weil westlich in diesem Fall die weltlich-europäisch/euroamerikanisch geprägte Alltagskultur im Gegensatz zur islamischen meint), die nicht repräsentativ waren für die Lebensweise in ihren Ländern, sie waren hochpolitische Menschen, und unsere Vorstellungen von den Migranten waren teilweise etwas romantisch. Aber auch nach Einräumung all dieser Fehler bleibe ich dabei, dass unseren europäischen Kulturen die wirkliche Öffnung gegenüber den Einwandernden fehlt und dass wir interkulturellen Dialog bräuchten.

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Es muss aber auch betont werden
...dass der "Schmelztiegel" nur dann funktionieren kann, wenn auch hinreichend viele mitmachen. Die Erwartung, dass, wenn man nur genug Menschen aus anderen Kulturen hereinholt, eine allgemeine "Vermischung" stattfindet, baut ja darauf, dass die andere Seite ebenfalls ein Interesse an "Vermischung" hat.

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Völlig richtig beobachtet, nur kann solches Interesse eben geweckt oder blockiert werden. Wenn Flüchtlinge in Lager gesteckt und mit für sie fremdem Essen in Esspaketen zwangsversorgt werden, weckt man sicherlich nicht die Neugier auf die Kultur des Einwanderungslandes. Das sind doch die Probleme, mit denen Asylsuchende und Bürgerkriegsflüchtlinge zu tun haben.

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schöpferische Zerstörung: Ich muss geschehen, dass ich diese Dinge damals aus so einer Mischung aus radikaler Variante der Lichterketten-Solidarität und Revolutionsromantik betrachtet, aber solche tiefgreifenden, nun sagen, soziokulturrevolutionär/reformerischen Überlegungen nicht angestellt habe. Später habe ich dann in "Geschichte, Rassismus und das Boot" ihre pervertierte Fassung gelesen: Die Linken seien mit Flüchtlingen nur deshalb solidarisch, weil sie in die ein revolutionäres Subjekkt hineinprojizieren würden, das es in der deutschen Gesellschaft nicht gäbe.

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Interkulturalität
"Interkulturalität, nicht Multikulturalität wäre die eigentliche Forderung, voneinander Lernen, Austausch der Kulturen untereinander, wechselseitiges Wachstum."

Das Wort habe ich lange gesucht: Interkulturalität.

Ich stehe auf dem Standpunkt, dass weltgeschichtlich (sorry: großes Wort) betrachtet Interkulturalität leistungsfähiger ist. Die entwickelsten Staaten waren häufig jene, welche kulturelle Austausch- und Durchgangsgebiete waren.

Dialog ist historisch betrachtet mächtiger als jede Armee. Geschichtliche Phasen der Isolation waren hingegen zumeist von Rückschritt und Repression geprägt.

Randbemerkung: Ich bezweifle u.a. auch deshalb das kulturalistische Konzept der gierigen "prowestlichen" Horden, die durch die Blogosphäre reiten. Die Beobachtung, dass der Multikulturalismus der Grünen eine (schwache) latent rassistische Note haben kann, teile ich.


Ich war gegenüber dem Gedanken, dass wir vor allem Zustrom benötigen, und sei es aus Projektion bzw. aus revolutionärer Romantik heraus, noch nie sonderlich zugeneigt. Einen bestimmten Zustrom (mehr als heute) benötigt eine Gesellschaft, aber sie benötigt vor allem im Innern die Kultur des Dialogs, und nicht das Abgrenzen.

Stigmatisierung und innere Abgrenzung führen am Ende zu Repression und Regression.

Genau diese Repression, quasi als Ergebnis eigener politischer Bemühungen, hat Frau Hirsi Ali jetzt am eigenen Leib spüren müssen (allerdings äußerst komfortabel abgefedert durch einen neuen Job als Hetzerin in den USA).

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Neues und Neugier sowie lesetip
@Che: Du hast natürlich recht: Gastfreundschaft und Neugierde am Gast ist halt auch in den islamischen Kulturen verankert. Gleichwohl befürchte ich, dass hier zwei adverse Effekte wirken:
1: Der konkrete Gast ist interessant (Dialog mindert Distanz) - Das westliche Land aber ist fremd, dekadent und überheblich.
2: Nun erfordert es bereits ein gewisses Maß Neugierde, einen Fremden einzuladen (OK, nicht bei Beduinen: Die Laden einfach gerne ein, scheint mir). Insofern bsteht auch die Gefahr der Perspektiv-Verschiebung wie bei den o.g. Laizistischen, Pro-Westlichen Gesrpächspartnern.

davon aber mal ab. Hat jemand in jüngster Zeit Jared Diamond "Collapse" gelesen? Das Buch im Hinterkopf und die Aussicht, dass sich Neugierde auch und vor allem als Neugierde nach westlichen Konsumgütern äußert: Vermüllung, Raubbau, Aufgabe nachhaltiger Land-Bewirtschaftungsformen wäre die Folge. Brrr.

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Na ja, wenn Externspeicher zu der von mir verwendeten Polemik "Völkerzoo". das hier schreibt: "Guck mal, Ehrenmorde, wie authentisch! Und richtig feurige, säbelschwingende Araber! Wie, als ob im Zoo ein Rudel Hyänen begafft wird, das über eine Gazelle herfällt. Und wie die Völkerschauen, die es Ende des 19. Jahrhunderts z.B. auf Jahrmärkten gab. Da liefen auch ein paar echte Neger - „Wilde“ eben - in ihrem Kral herum und wurden allgemein bestaunt…", so offenbart das zwar einen skurrilen Humor, geht aber an dem, was ich mit latentem Rassismus gemeint habe vorbei. Gemeint war damit die Scheinheiligkeit der Leute, die MigrantInnen als Bereicherung betrachten, darunter aber nichts Anderes verstehen, als ein paar fremdländische Nationalküchen mehr im Lande zu haben, auf kurdische Straßenfeste oder in nigerianische Trommelkurse zu gehen, sich deswegen als bessere Menschen zu fühlen, aber unterhalb dieser oberflächlichen Ebene an den Fremden desinteressiert zu sein. Weltoffenheit, Dialog, Antirassismus geht anders: Sich für den Anderen interessieren, Empathie aufbringen, ohne kritische Distanz zu verlieren und bereit zu sein, sich durch den Anderen selbst infrage stellen zu lassen. In diesem Zusammenhang ist natürlich auch das Verhalten des gewöhnlichen deutschen Touristen im Ausland eine Form von latentem Rassismus.

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Doch, genau das meinte ich auch. Die Ausländer so betrachten, wie wir die Bewohner eines exotischen Landes als Touristen betrachten.

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Okay, dann bin ich bei Dir.

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