Samstag, 4. November 2006
Methusalem - vom Unfug einer Debatte
che2001, 18:16h
Quer durch alle Parteien geht eine Diskussion, die zum Inhalt hat, dass die veränderte Altersstruktur unserer Gesellschaft dazu führe, dass mehr und vor allem länger gearbeitet werden müsse, um die Altersversorgung künftiger Generationen sicherzustellen. Nun hat schon Winston Churchill gesagt, er glaube keiner Statistik, die er nicht selber gefälscht habe, und in der tat, hier wird mit unsauberen Zahlen Propaganda gemacht, die vorgibt, das Wohl künftiger Generationen im Auge zu haben, in Wirklichkeit aber der weiteren Zurichtung der Bevölkerung für einen immer weiter deregulierten Arbeitsmarkt dient. Wenn die Abhängigkeitsquote definiert wird als das Verhältniss der Arbeitenden zu den Nichterwerbstätigen, dann werden in den üblichen Statistiken nur die Rentner, gelegentlich auch noch die Arbeitslosen erfasst, nicht hingegen die Kinder. Damit stimmt aber die demografische Argumentation, derzufolge immer weniger Erwerbstätige immer mehr Münder zu füttern hätten, nicht mehr, denn wenn die Leute weniger Kinder haben, werden sie dadurch ja finanziell entlastet. Die Abhängigenquote im Jahr 1975 war, bezieht man die Kinder mit ein, weit höher als heute und wird frühestens 2022 wieder erreicht sein. Gleichzeitig wächst aber die Produktivität, immerhin ist Deutschland Exportweltmeister. Seit 1960 ist die Produktivität in Deutschland im Durchschnitt um 2,5 Prozent pro Jahr gewachsen. 2 Prozent in der Zukunft würden ausreichen, jeden zu erwartenden Rückgang in der Zahl der Erwerbstätigen aufzufangen, zumindest bis ins Jahr 2050. Mal ganz abgesehen davon, dass die wesentlichste Ursache der Arbeitslosigkeit ja die ständige Rationalisierung unserer Produktion mit damit verbundenen Entlassungen ist, was eigentlich zwei alternative Lösungen naheliegen würde:Entschleunigung der Wirtschaft, bewusst langsameres Wachstum um des Erhalts von Arbeitsplätzen willen, oder großzügige Alimentierung der Arbeitslosen ohne jede Diskriminierung, die im Prinzip dafür bezahlt werden, dass sie nicht arbeiten, wofür man ihnen im Interesse der Produktivitätsrate dankbar sein sollte.
- In den 1920er Jahren gab es einmal eine Debatte, die mit ähnlichen Bildern und Horrorszenarien arbeitete wie die heutige Überalterungsdebatte. Damals waren Karikaturen, die einen Arbeiter zeigte, der auf seinen schultern ein Joch trug, auf dem 3 oder 4 Geisteskranke oder Behinderte saßen, weit verbreitet. Von der DNVP bis zur KPD, von der DSTP bis zum Zentrum wurde diskutiert, dass die ständige Zunahme geistiger Erkrankungen und Behinderungen, die als erblich angesehen wurden, zu einer allgemeinen "Zersetzung" der Volksgesundheit und zu nicht mehr bezahlbaren Unterbringungskosten in den Heil- und Pflegeanstalten führen würden. Die Debatte endete im Massenmordprogramm derNazis, doch wird heute meist übersehen, dass dies nur die radikale Ausführung eines Programms war, das, auf falschen biologischen Annahmen basierend, damals politischer Mainstream quer durch alle Parteien war. Selbst die Innere Mission hatte Denkschriften zur zwangsweisen Sterilisierung von Psychiatrieinsassen, Demenz-und Trisomiekranken sowie sog. "Asozialen" (Armutsalkoholiker, Wiederholungsverbrecher, bettelarme Familien mit besonders vielen Kindern) verfasst, und schon 1920 war die Broschüre „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“von dem Psychiater Alfred Erich Hocheund dem Juristen Karl Binding erschienen. Die "Euthanasie" war also nicht der wirre Wahn der Nazis, sondern Ergebnis eines damaligen Herrschaftsdiskurses in den HUmanwissenschafte und z.T. auch der Volkswirtschaft und der politischen Publizistik, Teil eines eugenischen Gesamtprogramms, dem es um die Optimierung der Bevölkerung nach den Erfordernissen kapitalistischer Verwertungsbedürfnisse ging. Wenn man sehr zynisch ist, könnte man sagen, die Shoah war dann sozusagen Hilters persönliche Note -der durchgedrehte Rassenhass des "Führers knüpfte an die Ausmerze der überflüssigen Esser an, also machte man mit den Juden, an deren Vermögen sich der Normaldeutsche gerne bereichert hatte, das Gleiche wie zuvor mit den Allerschwächsten und Allerwehrlosesten und trieb hierbei die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft buchstäblich bis zur Verwertung der Knochen. So etwas wäre sicher keinem der gutbürgerlichen Eugeniker der 20er Jahre vorstellbar gewesen, fest steht aber, dass das größte Verbrechen der Menschheitgeschichte in der Kontinuität einer Debatte steht, die nicht nur Ähnlichkeit mit der heutigen Alterspyramidendiskussion aufweist, sondern ideengeschichtlich deren Vorläuferin war. Heute wie damals geht es nicht darum, einem echten Problem entgegenzusteuern, nämlich der Nichtmehrfinanzierbarkeit der Rentenkassen, sondern die Profitmaximierung durch die Verschärfung der unmittelbaren Ausbeutung voranzutreiben und dies ideologisch zu rechtfertigen. Wenn Ihr also Schirrmacher, Tiefensee, Milbradt, Mißfelder oder auch Bütikofer künftig von Überalterug unsererGesellschaft und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit von Mehrarbeit und längerer Lebensarbeitszeit faseln hört, schaut ihnen genau ins Gesicht - und denkt daran, was sich dahinter verbirgt, und auch an die Tradition, in der dieses Argumentationsmuster steht.
Literatur zum Thema:
Nicholas Strange, Keine Angst vor Methusalem!
Albrecht Müller, Die Reform-Lüge
Götz Aly, Karl Friedrich Masuhr, Maria Lehmann, Karl Heinz Roth, Reform und Gewissen, "Euthanasie" im Dienst des Fortschritts
Götz Aly, Susanne Heim, Aussonderung und Tod. Die klinische Hinrichtung der Unbrauchbaren
Götz Aly, Susanne Heim, Ökonomie der Endlösung
Susanne Heim, Ulrike Schaz, Berechnung und Beschwörung. Überbevölkerung-Kritik einer Debatte
Jaqueline Kasun, The War on Population
- In den 1920er Jahren gab es einmal eine Debatte, die mit ähnlichen Bildern und Horrorszenarien arbeitete wie die heutige Überalterungsdebatte. Damals waren Karikaturen, die einen Arbeiter zeigte, der auf seinen schultern ein Joch trug, auf dem 3 oder 4 Geisteskranke oder Behinderte saßen, weit verbreitet. Von der DNVP bis zur KPD, von der DSTP bis zum Zentrum wurde diskutiert, dass die ständige Zunahme geistiger Erkrankungen und Behinderungen, die als erblich angesehen wurden, zu einer allgemeinen "Zersetzung" der Volksgesundheit und zu nicht mehr bezahlbaren Unterbringungskosten in den Heil- und Pflegeanstalten führen würden. Die Debatte endete im Massenmordprogramm derNazis, doch wird heute meist übersehen, dass dies nur die radikale Ausführung eines Programms war, das, auf falschen biologischen Annahmen basierend, damals politischer Mainstream quer durch alle Parteien war. Selbst die Innere Mission hatte Denkschriften zur zwangsweisen Sterilisierung von Psychiatrieinsassen, Demenz-und Trisomiekranken sowie sog. "Asozialen" (Armutsalkoholiker, Wiederholungsverbrecher, bettelarme Familien mit besonders vielen Kindern) verfasst, und schon 1920 war die Broschüre „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“von dem Psychiater Alfred Erich Hocheund dem Juristen Karl Binding erschienen. Die "Euthanasie" war also nicht der wirre Wahn der Nazis, sondern Ergebnis eines damaligen Herrschaftsdiskurses in den HUmanwissenschafte und z.T. auch der Volkswirtschaft und der politischen Publizistik, Teil eines eugenischen Gesamtprogramms, dem es um die Optimierung der Bevölkerung nach den Erfordernissen kapitalistischer Verwertungsbedürfnisse ging. Wenn man sehr zynisch ist, könnte man sagen, die Shoah war dann sozusagen Hilters persönliche Note -der durchgedrehte Rassenhass des "Führers knüpfte an die Ausmerze der überflüssigen Esser an, also machte man mit den Juden, an deren Vermögen sich der Normaldeutsche gerne bereichert hatte, das Gleiche wie zuvor mit den Allerschwächsten und Allerwehrlosesten und trieb hierbei die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft buchstäblich bis zur Verwertung der Knochen. So etwas wäre sicher keinem der gutbürgerlichen Eugeniker der 20er Jahre vorstellbar gewesen, fest steht aber, dass das größte Verbrechen der Menschheitgeschichte in der Kontinuität einer Debatte steht, die nicht nur Ähnlichkeit mit der heutigen Alterspyramidendiskussion aufweist, sondern ideengeschichtlich deren Vorläuferin war. Heute wie damals geht es nicht darum, einem echten Problem entgegenzusteuern, nämlich der Nichtmehrfinanzierbarkeit der Rentenkassen, sondern die Profitmaximierung durch die Verschärfung der unmittelbaren Ausbeutung voranzutreiben und dies ideologisch zu rechtfertigen. Wenn Ihr also Schirrmacher, Tiefensee, Milbradt, Mißfelder oder auch Bütikofer künftig von Überalterug unsererGesellschaft und der sich daraus ergebenden Notwendigkeit von Mehrarbeit und längerer Lebensarbeitszeit faseln hört, schaut ihnen genau ins Gesicht - und denkt daran, was sich dahinter verbirgt, und auch an die Tradition, in der dieses Argumentationsmuster steht.
Literatur zum Thema:
Nicholas Strange, Keine Angst vor Methusalem!
Albrecht Müller, Die Reform-Lüge
Götz Aly, Karl Friedrich Masuhr, Maria Lehmann, Karl Heinz Roth, Reform und Gewissen, "Euthanasie" im Dienst des Fortschritts
Götz Aly, Susanne Heim, Aussonderung und Tod. Die klinische Hinrichtung der Unbrauchbaren
Götz Aly, Susanne Heim, Ökonomie der Endlösung
Susanne Heim, Ulrike Schaz, Berechnung und Beschwörung. Überbevölkerung-Kritik einer Debatte
Jaqueline Kasun, The War on Population
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artur,
Samstag, 4. November 2006, 20:11
welche alternativen
bieten uns die "nicht-mehr-finanzierbar-propagandisten" eigentlich? private rentenversicherungen und fonds nach dem vorbild der us von a (long live borat!)? was dort abgeht, kann nicht vorbild für uns sein, meine ich.
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nihil_obstat,
Samstag, 4. November 2006, 22:21
Ich lese immer 'wir' und 'uns' bei solchen hilflosen Fragen. Die Propagandisten bieten ihre netten Modelle nicht uns, sondern ihren Spezis aus der Politik an, die diese dann als eigene Ideen ausgeben - und über solche Hilfestellungen meist angesichts finanzieller Zuwendung und eigener Inkompetenz recht froh sind. Gut, damit muss man rechnen, im Moment wird es dank enormer Propagandaaufwendungen allerdings recht schwer werden, irgendwelche Parteien bei der nächstmöglichen Wahl dafür abzustrafen: Nachtwächterstaat und Kraft durch Freude sind inzwischen allgemeiner Konsens (oh nein, bitte nicht 'Die Linke' als Alternative anführen).
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auch-einer,
Sonntag, 5. November 2006, 13:35
guter hinweis, arthur.
aber genau das läuft augenblicklich, den lebensversichereren (allianz, axa, generali) das geld in die kassen spülen. mit dem semantischen trick, keine kapitalllebens- sondern eine rentenversicherung zu verkaufen, im fall des sog. riester-produkts noch mit dem hinweis, dafür gibts zuschüsse und das ist auch noch hatz-vier-sicher, so dass noch die letzte mark in die kasse gespült wird.
da gab es einmal einen herrn meyer, glaube ich, ich meine den, der immer noch behaupten darf, kapitallebensversicherungen sind legaler betrug am kunden. davon hört man gar nichts mehr.
was in den us of a abläuft, nämlich dass die am rand der zahlungsunfähigkeit balancierenden fluglinien und autobauer ihre verbindlichkeiten bei den pensionskassen ihrer eigenen unternehmen haben, die sanierung also darauf hinauskläuft, dass die beschäftigten ihre ersparnisse verlieren, scheint für einige in der republik tatsächlich ein reizvolles modell zur firmenfinanzierung, nachdem da die banken ausgestiegen sind, und das mit der börse auch nicht mehr so doll läuft.
aktienmarkt, genau. der nächste hype nach oman und china ist jetzt russland, das walte gert. und der letzte flop an der börse ist auch so gut wie vergessen, man kann schon in der öffentlichkeit deutsche telekom oder t-online sagen, ohne dass alle um einen herum aufstöhnen,
aber genau das läuft augenblicklich, den lebensversichereren (allianz, axa, generali) das geld in die kassen spülen. mit dem semantischen trick, keine kapitalllebens- sondern eine rentenversicherung zu verkaufen, im fall des sog. riester-produkts noch mit dem hinweis, dafür gibts zuschüsse und das ist auch noch hatz-vier-sicher, so dass noch die letzte mark in die kasse gespült wird.
da gab es einmal einen herrn meyer, glaube ich, ich meine den, der immer noch behaupten darf, kapitallebensversicherungen sind legaler betrug am kunden. davon hört man gar nichts mehr.
was in den us of a abläuft, nämlich dass die am rand der zahlungsunfähigkeit balancierenden fluglinien und autobauer ihre verbindlichkeiten bei den pensionskassen ihrer eigenen unternehmen haben, die sanierung also darauf hinauskläuft, dass die beschäftigten ihre ersparnisse verlieren, scheint für einige in der republik tatsächlich ein reizvolles modell zur firmenfinanzierung, nachdem da die banken ausgestiegen sind, und das mit der börse auch nicht mehr so doll läuft.
aktienmarkt, genau. der nächste hype nach oman und china ist jetzt russland, das walte gert. und der letzte flop an der börse ist auch so gut wie vergessen, man kann schon in der öffentlichkeit deutsche telekom oder t-online sagen, ohne dass alle um einen herum aufstöhnen,
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mmarheinecke,
Samstag, 4. November 2006, 21:17
Ein wichtiges Thema -
zumal sogar die Eugenik-Debatte bis in die Gegenwart hinein nicht tot ist.
Hierzu ein manueller Trackback: MMsSenf: Auch Eugenik war mal Konsenz
Hierzu ein manueller Trackback: MMsSenf: Auch Eugenik war mal Konsenz
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sammelmappe,
Sonntag, 5. November 2006, 11:43
Ob die, die ganze Zeit nachplappern "Es ist kein Geld mehr da", jetzt vielleicht doch merken, dass Geld da ist. Die Steuermehreinnahmen für dieses Jahr, dass ist das Geld, das eben nicht an erwerbslose Menschen umverteilt wird.
Umverteilt wird die ganze Zeit, aber nur in eine Richtung.
Umverteilt wird die ganze Zeit, aber nur in eine Richtung.
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stefanolix,
Sonntag, 5. November 2006, 11:58
Es gibt lediglich eine Differenz zwischen der (konservativen) Steuerschätzung 2006 und den tatsächlichen Steuereinnahmen 2006, die unter Sonderbedingungen zustandegekommen ist. Diese Sonderbedingungen sollten jedem politisch interessierten und einigermaßen informierten Menschen plausibel sein. Sie sind nicht wiederholbar. Eine Umverteilung von "unten" nach "oben" findet bei der jetzt bekanntgegebenen Lösung gerade nicht statt.
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