Dienstag, 22. Mai 2007
Lebenswelten und Utopien
Meine erste Utopie hatte ich als Jugendlicher. In der Clique träumten wir von einem Leben als subsistenzwirtschaftende Ökobauern mit eigener Hanfproduktion und nannten uns United Flower Power Bauers, doch dies blieb nur jugendliche Schwärmerei. Meine nächste Utopie war eine Mischung aus Ökotopia
http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96kotopia und der Vorstellung eines blockfreien Deutschland ohne Armee (oder mit einer, die strukturell nicht angriffsfähig ist, z.B. Afheldts autonomen Techno-Kommandos), immerhin relativ nahe dran an meinem eigenen damaligen politischen Engagement, das sich zwischen Ökopazifismus und Menschenrechtsaktivismus bewegte. Mit dem Hineinwachsen in die autonome Szene wurde dann für mich der Anarchosyndikalismus wichtig, mit dem Geschichtsstudium, das zeigte, was für eine blutrünstige Angelegenheit auch die Machnotschina in der Ukraine und der Sommer der Anarchie in Katalonien gewesen waren rückte dann eher die abstrakte Vorstellung bestimmter Freiheitsideale ohne Bindung an ein bestimmtes historisches Subjekt (Adorno würde da wohl vom Nichtidentischen sprechen) einerseits und die niemals kritikfreie Solidarität für konkrete aktuelle politische Bewegungen/Experimente (Sandinistas, Zapatistas, die Liga der Werktätigen Kurdistans, Frente Polisario, Anarchosyndikalisten in Argentinien, späte (legale) Tupamaros) in den Vordergrund. Geblieben ist bis heute eigentlich nur die feste Überzeugung, dass man vieles völlig anders und viel besser machen könnte und der Glaube an die Mündigkeit des Einzelmenschen
bei gleichzeitiger alltäglicher Entmündigung desselben durch Kulturindustrie und Politik. Eine Wirtschaftsdemokratie erschiene mir als plausibles politisches Ziel (paritätische Mitbestimmung in allen Branchen, auch im Mittelstand, Bestätigung der Vorstände einer AG durch Wahlen unter der Belegschaft), Volksabstimmungen wie in der Schweiz und gewisse rätedemokratische Elemente (Übernahme der Kompetenzen kleinerer Ministerien durch direkt gewählte Räte) und ein imperatives Mandat für Abgeordnete. All dies scheint angesichts der politischen Realitäten wie ein absurder Traum, aber ich bin immer noch der Auffassung, dass man sehr viel verlangen muss, um wenigstens etwas zu bekommen, und so wenig ich sonst mit meinem Namenspatron gemeinsam habe, "seien wir realistisch, fordern wir das Unmögliche!" erscheint mir mehr denn je als angesagte Devise. Dunnemals, als junger Studi und heißblütiger Kämpfer, war das eigene Leben ein materiell höchst bescheidenes. Der Student geht zur Mensa, bis er bricht, und so kochten wir denn oft selber, was wir damals aber aßen, nannte sich "Reis mit Scheiß" - Reis mit ein paar Küchenresten, heute würde ich glatt Küchenabfälle dazu sagen. In Urlaub gefahren wurde per Fahrgemeinschaft mit Auto und Zelt, manchmal, so in Avignon, auch einfach auf der Stadtmauer geschlafen, und damit galt ich (mit umgerechnet 300 Euro im Monat) bei Kommilitonen als "Vollstecker" - sie urlaubten per Interrail oder per Daumen. Dieser Lebensstandard sollte sich allmählich verbessern, doch blieb er auch 6 Jahre nach Ende des Studiums noch nach den gesellschaftlichen Durchschnittsmaßstäben prekär, ein normaler Arbeiter verglichen mit mir fast reich.

Nun, das ist heute grundsätzlich anders, Ernährungsgewohnheiten




wie Fortbewegungsmittel sind mittlerweile doch in einem höheren Segment angesiedelt,



man leistet sich aufwändige Hobbies





ich habe aber niemals meine Wurzeln und mein Herkommen vergessen, auch nicht meine Verbundenheit zu Malochern, Migranten und Armen, halte weiterhin Connections zur Szene, gehe weiterhin auf Demos und unterstütze Kampagnen. Insofern kann ich auch zu meiner autonomen Geschichte sagen: Je ne regrette rien!

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Kudos!

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Thank´s a lot. Ich war mir nicht sicher, wie diese Expressdarstellung meines Lebenswegs wahrgenommen wird, hatte aber das Gefühl "das muss mal gesagt werden".

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Auch ich hatte meine ersten Visionen als Jugendlicher. 1968 oder war es 1969 habe ich als Schulsprecher einen Schulstreik organisiert, der doch tatsächlich in der Blödzeitung abgedruckt wurde. Ein wenig zu jung für einen 68er war ich dann schon frustriert über meine studentischen Ansprechpartner vom SDS, die dann plötzlich im MSB Spartakus landeten, was ich nun gar nicht verstehen konnte.

Also der Marsch durch die Institutionen, SPD-Mitglied und Vorsitzender eines Ausländervereins in Hamburg. Dabei radikal erfahren, dass Politik auf der Verfolgung persönlicher Jobinteressen beruhte, ich als Mathematiker hatte kein Interesse daran einen öffentlichen Job im sozialen Bereich zu bekommen und war ganz schnell ein Exot in der Szene. Meine persönlichen Erfahrungen mit den Razzien auf RAF habe ich genügend, es ging auf die langhaarigen Gitarrenträger, wobei die RAF schon längst sich als Alfa Romeo fahrende Schlipsträger tarnte.

Meine erste Frau war dann auch autonom angelehnt, besonders im Anti-AKW-Kampf. Sie fährt mittlerweile Mercedes-Kombi, lebt in einer Kleinstadt und ist Geschäftsführerin einer kleinen Firma. Natürlich auch Mutter und Eigenheimbesitzerin.

Was bleibt? Frust, und trotzdem eine gewisse Menge von unabänderlichen Überzeugungen. Einen Audi habe ich nicht, sogar kein Auto, besondere Sport- und Urlaubsarten auch nicht.

Aber ja, auch ich bin mir meiner Herkunft aus dem Kleinbürgertum bewusst, aber die Ermüdung ist mir sicher anzumerken. Trotzdem haben Malocher, Migranten und Arme unausweigerlich Sympathiepunkte. Und auch ich bin der gleichen Meinung wie Edith Piaf!

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ja, es ist schon sonderbar. alles.
geht mir genauso.

"träumten wir von einem Leben als subsistenzwirtschaftende Ökobauern mit eigener Hanfproduktion"

öko-landwirtschaft ist ein geschäft wie andere, d.h. es kommt auf produktionsmittel und umfassende kenntnisse von ihrer anwendung an, kaufmännisches geschick ist nicht nur bei der vermarktung hilfreich. dies verleugnen zu wollen ist der fehler der grünen, stadtbewohner die meisten, für die im märzen immer noch der bauer die rösslein anspannt.
blödsinn, wer was mit pferden machen will, hat einen reiterhof mit pferdepension, hippotherapie und einem förderverein.
und was man so hört, sei mit gras in der kalifornischen landwirtschaft richtig geld verdient.

"Eine Wirtschaftsdemokratie erschiene mir als plausibles politisches Ziel (paritätische Mitbestimmung in allen Branchen, auch im Mittelstand, Bestätigung der Vorstände einer AG durch Wahlen unter der Belegschaft), Volksabstimmungen wie in der Schweiz und gewisse rätedemokratische Elemente (Übernahme der Kompetenzen kleinerer Ministerien durch direkt gewählte Räte) und ein imperatives Mandat für Abgeordnete."

nicht schlecht.

gleich vorneweg: mir als schwaben sind die schweizer schon verdächtig, die sind so, wie der schwabe sein sollte, aber wer will das schon. aber die haben eine erfolgreiche bürgerliche revolution zustandegebracht, 1848 ist bei denen anlass zu gedenken, aber nicht wehmütigem so wie bei uns.

soviel ich weiss gehört die fatz, die steife, einer stiftung, einer reichen, die verwalten sich quasi selber, und verweisen ab und an auch mal darauf, dem niedrigen kommerz nicht unmittelbar unterworfen zu sein. schöne kapitalisten, das.
auch beim spiegel soll es so etwas wie ein beteiligungsmodell geben, was die entscheidungsfreude etwas hemmt, und eben nicht zur lust an wirtschaftlichen und anderen experimenten führt.
springer, burda, bauer dienen dem geldgewinnst, und das recht brutal. gerade der burda, der so gern den mäzen und kunstfreund gibt...

warum eigentlich kein imperatives mandat für gesellschaftvorstände und aufsichträte? würde manches klarer machen.

warum eigentlich nicht die übernahme von ministerien durch ausgewisenene fachleute und das parlament als kontrollinstanz? so war das ursprünglich auch mal gedacht, glaube ich.

und was, wenn die herrschaft der beteiligungsfonds (für herrn müntefering sind das heuschrecken, der möchte eben auch nicht zu genau wissen, wie das vermögen der spd verwaltet wird) der umschlag vom kapitalismus zu etwa anderem wäre? bloß mal so, es wird da das geld der kleinen leute verwaltet, das alles dient letztlich der altersvorsorge lohnabhängiger.

und damit erstmal schluss.

nachgefasst noch:

wer von sich sagen kann:

ich habe aber niemals meine Wurzeln und mein Herkommen vergessen, auch nicht meine Verbundenheit zu Malochern, Migranten und Armen, halte weiterhin Connections zur Szene, gehe weiterhin auf Demos und unterstütze Kampagnen. Insofern kann ich auch zu meiner autonomen Geschichte sagen: Je ne regrette rien!

ist zu beneiden. glückwunsch.

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du franzmann, du
ich mußte doch meine Freundin befragen! :(

Klasse! Schaffe, Schaffe ... und den Kontakt nicht verlieren :)

no me quieres? no me saludas?

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