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Sonntag, 26. Februar 2006
Stalking Heads
che2001, 20:34h
Wenn ich eines hasse, so sind das Stalker, Spammer, Schnüffler, spionierende Hacker, Paparazzi etc.
Dennoch muss ich (ich habe gerade eine besinnliche Zeit, in der alte Erinnerungen hochkommen) eingestehen, dass auch ich nicht frei von Schuld bin. Es ist schon eine Weile her, ich weilte mehrere Tage in HH und übernachtete dort bei der K. Deren Mitbewohnerin war nicht anwesend, und so konnte ich deren Zimmer benutzen. Nun hatte ich mir Arbeit mitgebracht, brauchte also einen Rechner, und als praktizierender Anhänger großer Workstations besaß ich schon lange kein Notebook mehr. Die K. meinte, ihre Mitbewohnerin (die fing auch mit K an, ich nenne sie also hinfort K2) hätte sicher nichts dagegen, wenn ich ihren Rechner benutzte. Das tat ich dann auch. Dabei stieß ich auf eine Merkwürdigkeit.
K2 hatte ihre Daten nicht nur durch kein Password gesichert, Sie ließ alles ungeordnet im Wurzelverzeichnis herumliegen. Es passierte mir wiederholt, dass ich versehentlich eine ihrer Dateien öffnete, die ich dann ärgerlich wieder wegklickte. Am zweitenAbend, es war schon ziemlich spät, blieb ich dann irgendwann hängen und las einen Text, eine politische Rede für eine Kundgebung. Ich wusste, dass das nicht in Ordnung war, aber ich las erneut weiter, als ich ein weiteres Mal eine Word-Datei öffnete, die so ähnlich hieß wie ein von mir abgespeicherter Text, aber eine Art Tagebucheintrag der K2 war. Sehr schnell ereignete sich der Sündenfall zum Stalker: Ich las über eine Stunde lang in ihren Aufzeichnungen, die in einer warmen, sympathischen facettenreichen Farbe geschrieben waren, und erfuhr dabei sehr viel über sie, ihre Vorlieben, ihre Ängste, ihren Geschmack, insbesondere auch darüber, worauf sie so bei Männern steht. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, als ich den Rechner abschaltete, aber ich war auch hin- und hergerissen vom Interesse an dieser offensichtlich faszinierenden Frau, deren Texte eine außerordentliche innere Schönheit offenbarten.
Dass von äußerer Schönheit auch die Rede sein konnte, offenbarte sich am nächsten Abend, als die K2 nach Hause kam. Diese hatte schon sehr viel von mir gehört, kannte die meisten meiner Texte und war, wie sie erzählte, schon lange sehr daran interessiert, mich kennenzulernen.
Da ich auf diese Frau nun meinerseits ziemlich abfuhr, machte ich ihr den Hof, warf mit Komplimenten um mich, baggerte, was das Zeug hielt und machte auch bedenkenlos von meinem Herrschaftswissen Gebrauch, das auf ihrer Festplatte lag. Wo immer ich wusste, dass sie an dieser Stelle nun dies erwartet oder gerne gehört hätte, setzte ich es konsequent ein. Irgendwann kam die K, um mir mitzuteilen, dass sie mir die Couch im Wohnzimmer bezogen hätte, da die K2 ja nun wieder ihr Zimmer bräuchte, aber da war längst klar, wer mit wem in wessen Bett die Nacht verbringen würde.
- Es wurde daraus eine One-Weekend-Love-Affair, nichts Größeres, aber in jeder Beziehung wunderbar.
Ich richtete mich auch beim Sex sehr genau nach dem, was sie laut ihren Aufzeichnungen haben wollte, hier ein Biß ins Ohr, dort ein Fingernagel auf der Wirbelsäule, da ein Kniff in den Hintern, wenn sich gerade ihr Atem beschleunigte...
Nur hatte ich hinterher ein schlechtes Gewissen, ohne sagen zu können, dass ich mein Handeln bedauerte. Irgendwann fasste ich Mut und rief die K2 an, um ihr alles zu gestehen. Ich stammelte ziemlich lang und dumm herum, bis ich zum Punkt kam.Ich war sehr zerknirscht. Da sagte die K2: "Zwischen uns gibt es kein wirkliches Problem. Mich nerven One-Night-Stands mit Männern, die das Falsche sagen oder Reize spielen lassen, die mich nicht ansprechen oder mich mackermäßig beeindrucken wollen. Ich habe also nachgeholfen. Du hast genau die Dinge gemacht, die ich als Handlungsanweisungen auf meinem Rechner hinterlassen habe."
tit for tat, kann man nur sagen.
Dennoch muss ich (ich habe gerade eine besinnliche Zeit, in der alte Erinnerungen hochkommen) eingestehen, dass auch ich nicht frei von Schuld bin. Es ist schon eine Weile her, ich weilte mehrere Tage in HH und übernachtete dort bei der K. Deren Mitbewohnerin war nicht anwesend, und so konnte ich deren Zimmer benutzen. Nun hatte ich mir Arbeit mitgebracht, brauchte also einen Rechner, und als praktizierender Anhänger großer Workstations besaß ich schon lange kein Notebook mehr. Die K. meinte, ihre Mitbewohnerin (die fing auch mit K an, ich nenne sie also hinfort K2) hätte sicher nichts dagegen, wenn ich ihren Rechner benutzte. Das tat ich dann auch. Dabei stieß ich auf eine Merkwürdigkeit.
K2 hatte ihre Daten nicht nur durch kein Password gesichert, Sie ließ alles ungeordnet im Wurzelverzeichnis herumliegen. Es passierte mir wiederholt, dass ich versehentlich eine ihrer Dateien öffnete, die ich dann ärgerlich wieder wegklickte. Am zweitenAbend, es war schon ziemlich spät, blieb ich dann irgendwann hängen und las einen Text, eine politische Rede für eine Kundgebung. Ich wusste, dass das nicht in Ordnung war, aber ich las erneut weiter, als ich ein weiteres Mal eine Word-Datei öffnete, die so ähnlich hieß wie ein von mir abgespeicherter Text, aber eine Art Tagebucheintrag der K2 war. Sehr schnell ereignete sich der Sündenfall zum Stalker: Ich las über eine Stunde lang in ihren Aufzeichnungen, die in einer warmen, sympathischen facettenreichen Farbe geschrieben waren, und erfuhr dabei sehr viel über sie, ihre Vorlieben, ihre Ängste, ihren Geschmack, insbesondere auch darüber, worauf sie so bei Männern steht. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, als ich den Rechner abschaltete, aber ich war auch hin- und hergerissen vom Interesse an dieser offensichtlich faszinierenden Frau, deren Texte eine außerordentliche innere Schönheit offenbarten.
Dass von äußerer Schönheit auch die Rede sein konnte, offenbarte sich am nächsten Abend, als die K2 nach Hause kam. Diese hatte schon sehr viel von mir gehört, kannte die meisten meiner Texte und war, wie sie erzählte, schon lange sehr daran interessiert, mich kennenzulernen.
Da ich auf diese Frau nun meinerseits ziemlich abfuhr, machte ich ihr den Hof, warf mit Komplimenten um mich, baggerte, was das Zeug hielt und machte auch bedenkenlos von meinem Herrschaftswissen Gebrauch, das auf ihrer Festplatte lag. Wo immer ich wusste, dass sie an dieser Stelle nun dies erwartet oder gerne gehört hätte, setzte ich es konsequent ein. Irgendwann kam die K, um mir mitzuteilen, dass sie mir die Couch im Wohnzimmer bezogen hätte, da die K2 ja nun wieder ihr Zimmer bräuchte, aber da war längst klar, wer mit wem in wessen Bett die Nacht verbringen würde.
- Es wurde daraus eine One-Weekend-Love-Affair, nichts Größeres, aber in jeder Beziehung wunderbar.
Ich richtete mich auch beim Sex sehr genau nach dem, was sie laut ihren Aufzeichnungen haben wollte, hier ein Biß ins Ohr, dort ein Fingernagel auf der Wirbelsäule, da ein Kniff in den Hintern, wenn sich gerade ihr Atem beschleunigte...
Nur hatte ich hinterher ein schlechtes Gewissen, ohne sagen zu können, dass ich mein Handeln bedauerte. Irgendwann fasste ich Mut und rief die K2 an, um ihr alles zu gestehen. Ich stammelte ziemlich lang und dumm herum, bis ich zum Punkt kam.Ich war sehr zerknirscht. Da sagte die K2: "Zwischen uns gibt es kein wirkliches Problem. Mich nerven One-Night-Stands mit Männern, die das Falsche sagen oder Reize spielen lassen, die mich nicht ansprechen oder mich mackermäßig beeindrucken wollen. Ich habe also nachgeholfen. Du hast genau die Dinge gemacht, die ich als Handlungsanweisungen auf meinem Rechner hinterlassen habe."
tit for tat, kann man nur sagen.
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Die neoliberale Falle
che2001, 19:20h
Schon etwas älter - aus der taz von kurz vor Weihnachten, doch noch immer aktuell:
Unternehmer sollen Anstand zeigen und keine Leute entlassen, fordern nicht nur Linke. Das ist unpolitisch: So kommt es nie zu Gerechtigkeit, die Chefs können sich freuen
Die Öffentlichkeit ist empört. DaimlerChrysler streicht 8.500 Stellen, die Telekom gleich 32.000. AEG wandert von Nürnberg nach Polen und hinterlässt 1.750 Mitarbeiter ohne Job. Der Reifenhersteller Conti schließt einen Standort in Hannover, 320 Arbeitsplätze entfallen. Dabei konnte der Konzern schon in den ersten neun Monaten einen Rekordgewinn von 1,2 Milliarden Euro melden.
Neue Meinungskoalitionen bilden sich. Ulrich Greiner in der Zeit ist so entsetzt darüber wie die Bild-Zeitung, dass Firmen Stellen reduzieren, obwohl sie Gewinn machen - nur um ihre exorbitanten Erträge noch weiter zu steigern. Allseits wird "Anstand" bei "den Unternehmern" vermisst. Eine Gegenstrategie gibt es ebenfalls: Auch taz-Leser rufen zu Kundenboykotten gegen die ruchlosen Firmen auf.
Sie meinen es alle gut. Doch ohne auch nur zu stocken, eilen Linke und nicht so linke Empörte in eine neoliberale Falle. Die Enttäuschten regen sich zwar über einige Chefs ohne "Anstand" auf, aber das tun sie nur, weil sie an den guten Unternehmer glauben, der für Gerechtigkeit sorgen soll. Der Staat kommt nicht mehr vor - das ist genau das FDP-Konzept. Der moralische Appell an die Firmenchefs ist eine Entpolitisierung, die hochpolitisch ist. Die Mächtigen profitieren, wenn man sie für allmächtig hält.
Zudem läuft die Empörung ins Leere: Moral kann sich nur gegen Täter richten. Doch wer sind "die Unternehmer"? Sie sind nicht fassbar. Beispiel DaimlerChrysler: Wie die Homepage ausweist, gehörte der Konzern am 31. Juli zu 6,9 Prozent der Deutschen Bank und zu 7,2 Prozent dem Emirat Kuwait. Der Rest war Streubesitz: Privatinvestoren hielten 25 Prozent, institutionelle Investoren 60,9 Prozent. Der Firmenchef ist heute nicht mehr der Besitzer, sondern ein Manager. Was die Linken wie einen Klassenkampf zwischen Arbeitnehmern und Eigentümern inszenieren, ist tatsächlich ein Ringen zwischen abhängig Beschäftigten.
Dieser Kampf ist sinnlos. Auch sonst ist der Gegner verstörend uneindeutig: Der Reichtum ist zwar extrem ungerecht verteilt. Trotzdem gehören die großen Firmen nicht mehr nur anonymen Milliardären, die lässig beim Golf ihre umfangreichen Depots verwalten. Der weltweit größte Aktienfonds ist der Pensionsfonds der öffentlichen Bediensteten in Kalifornien. Darauf hat der Unternehmensberater Roland Berger zu Recht hingewiesen (taz vom 17. 12.). Wenn Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank, Renditen von 25 Prozent anpeilt, dann profitieren auch viele Kleinanleger. Sie sind genauso anspruchsvoll wie Großkunden - auch der normale Angestellte sucht seine Lebensversicherung nach der Ertragstabelle aus.
Widersinnig sind auch die Boykottpläne, mit denen abwandernde Firmen abgestraft werden sollen: Diese "Kauft deutsch"-Kampagne hat etwas Nationalistisches. Vor allem aber wird ignoriert, dass Deutschland 2005 schon wieder absoluter Exportweltmeister ist. Wir führen weit mehr Güter aus, als wir einführen - und verlagern damit Arbeitslosigkeit in andere Länder. Da ist es volkswirtschaftlich nur fair, wenn dieser Effekt zumindest ein wenig korrigiert wird, indem deutsche Firmen gelegentlich Jobs ins Ausland umschichten.
Aber diese Globalsicht dringt nicht durch; viel stärker beeindrucken die Fernsehbilder, die verzweifelte AEG-Mitarbeiter in Nürnberg zeigen. Sie haben ein Recht auf Wut und Trauer, und sie haben ein Recht darauf, von der Gesellschaft mehr zu erhalten als nur Hartz IV. Doch die bittere Ironie ist: Solange die empörten Fernsehzuschauer nur gebannt auf Einzelfirmen starren und Manager anklagen, wird es nie gelingen, den gesellschaftlichen Reichtum gerechter zu verteilen.
Es ist keine harmlose Nostalgie, sich "die Wiederkehr des alten Patriarchen zu ersehnen" (Greiner). Denn der moralische Appell an die Unternehmer wirkt paradox. Er erscheint wie eine ultimative Drohung, doch gleichzeitig formuliert er eine Heilserwartung, die den Kapitalbesitzern grenzenlosen Einfluss zuschreibt. Die Empörten haben vergessen, dass für das Volkswohl nicht die Bosse zuständig sind - sondern die Parlamentarier. Selbst Linke glauben heute, dass Betriebs- und Volkswirtschaft identisch seien. Sie vertrauen derart inniglich auf die Firmenchefs, dass sie vergessen, dass man ruhig die Unternehmensteuern erhöhen könnte. Stattdessen trachten sie danach, die Manager moralisch zu läutern.
Dabei berufen sich die Empörten gerne auf Artikel 14 des Grundgesetzes, der im zweiten Absatz dekretiert, dass "Eigentum verpflichtet". Allerdings macht der erste Absatz klar, dass es ein Missverständnis wäre, zu glauben, dass damit vorrangig der moralische Appell an einzelne Unternehmer gemeint wäre, der von engagierten Bürgern ausgesprochen wird. Oder von der Bild-Zeitung. Stattdessen formuliert der erste Absatz, welche "Schranken" es für das Eigentum gibt - die durch "Gesetze bestimmt" werden. Mit diesem Absatz werden übrigens so unterschiedliche Eigentumsbeschränkungen wie der Umweltschutz, der Arbeitsschutz oder auch die progressive Einkommensteuer begründet. Artikel 14 ermächtigt also den Staat, das Parlament, nicht selbst ernannte Moralisten. Warum können selbst Linke damit nichts mehr anfangen, obwohl dies urlinkes Gedankengut ist?
Vielleicht lässt sich diese merkwürdige öffentliche Empörung damit erklären, dass die Fronten so unübersichtlich sind. Die Bürger kommen mit ihren vielfältigen Rollen nicht mehr zurecht. Als Kunde profitieren sie vom gnadenlosen Wettbewerb; als Anleger freuen sie sich über Kurssprünge und hohe Dividenden. Doch als Angestellte sind sie Opfer dieser Trends - ihre Löhne stagnieren, ihre Jobs könnten eingespart werden.
Diese Zerrissenheit wird noch zunehmen. Auch durch politische Maßnahmen, die von fast allen gewünscht sind. So würden 85 Prozent aller Bundesbürger ihre Rente am liebsten weitgehend privat ansparen. Wieder sagt der Instinkt: Bloß keine Lösungen vom Staat erwarten, etwa eine steuerfinanzierte Altersvorsorge. Doch die Privatisierung würde die Pensionsfonds weiter aufblähen, die schon jetzt den rabiaten Renditekurs der Aktiengesellschaften bestimmen - siehe DaimlerChrysler.
Dieser unreflektierte Instinkt lässt sich politisch bestens ausnutzen. In den Vereinigten Staaten will Präsident Bush die Renten ebenfalls privatisieren. Sein Chefberater Grover Norquist fühlt sich so sicher, dass er die Motive sogar öffentlich erläutert: "Wenn wir mehr Leute zu Investoren machen, dann schaffen wir mehr Republikaner und weniger Demokraten." Denn Kleinanleger reagieren wie Großaktionäre: Sie werden konservativ. Wer also nicht als staatsferner Neoliberaler enden will, sollte etwas selbstkritischer sein. Es ist absurd, gegen den mangelnden Anstand von Unternehmern zu wettern - wenn es doch wahrscheinlich ist, dass der Kritiker indirekt selbst dieser Unternehmer ist.
ULRIKE HERRMANN
taz Nr. 7850 vom 20.12.2005, Seite 12, 241 Zeilen (Kommentar), ULRIKE HERRMANN
Unternehmer sollen Anstand zeigen und keine Leute entlassen, fordern nicht nur Linke. Das ist unpolitisch: So kommt es nie zu Gerechtigkeit, die Chefs können sich freuen
Die Öffentlichkeit ist empört. DaimlerChrysler streicht 8.500 Stellen, die Telekom gleich 32.000. AEG wandert von Nürnberg nach Polen und hinterlässt 1.750 Mitarbeiter ohne Job. Der Reifenhersteller Conti schließt einen Standort in Hannover, 320 Arbeitsplätze entfallen. Dabei konnte der Konzern schon in den ersten neun Monaten einen Rekordgewinn von 1,2 Milliarden Euro melden.
Neue Meinungskoalitionen bilden sich. Ulrich Greiner in der Zeit ist so entsetzt darüber wie die Bild-Zeitung, dass Firmen Stellen reduzieren, obwohl sie Gewinn machen - nur um ihre exorbitanten Erträge noch weiter zu steigern. Allseits wird "Anstand" bei "den Unternehmern" vermisst. Eine Gegenstrategie gibt es ebenfalls: Auch taz-Leser rufen zu Kundenboykotten gegen die ruchlosen Firmen auf.
Sie meinen es alle gut. Doch ohne auch nur zu stocken, eilen Linke und nicht so linke Empörte in eine neoliberale Falle. Die Enttäuschten regen sich zwar über einige Chefs ohne "Anstand" auf, aber das tun sie nur, weil sie an den guten Unternehmer glauben, der für Gerechtigkeit sorgen soll. Der Staat kommt nicht mehr vor - das ist genau das FDP-Konzept. Der moralische Appell an die Firmenchefs ist eine Entpolitisierung, die hochpolitisch ist. Die Mächtigen profitieren, wenn man sie für allmächtig hält.
Zudem läuft die Empörung ins Leere: Moral kann sich nur gegen Täter richten. Doch wer sind "die Unternehmer"? Sie sind nicht fassbar. Beispiel DaimlerChrysler: Wie die Homepage ausweist, gehörte der Konzern am 31. Juli zu 6,9 Prozent der Deutschen Bank und zu 7,2 Prozent dem Emirat Kuwait. Der Rest war Streubesitz: Privatinvestoren hielten 25 Prozent, institutionelle Investoren 60,9 Prozent. Der Firmenchef ist heute nicht mehr der Besitzer, sondern ein Manager. Was die Linken wie einen Klassenkampf zwischen Arbeitnehmern und Eigentümern inszenieren, ist tatsächlich ein Ringen zwischen abhängig Beschäftigten.
Dieser Kampf ist sinnlos. Auch sonst ist der Gegner verstörend uneindeutig: Der Reichtum ist zwar extrem ungerecht verteilt. Trotzdem gehören die großen Firmen nicht mehr nur anonymen Milliardären, die lässig beim Golf ihre umfangreichen Depots verwalten. Der weltweit größte Aktienfonds ist der Pensionsfonds der öffentlichen Bediensteten in Kalifornien. Darauf hat der Unternehmensberater Roland Berger zu Recht hingewiesen (taz vom 17. 12.). Wenn Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank, Renditen von 25 Prozent anpeilt, dann profitieren auch viele Kleinanleger. Sie sind genauso anspruchsvoll wie Großkunden - auch der normale Angestellte sucht seine Lebensversicherung nach der Ertragstabelle aus.
Widersinnig sind auch die Boykottpläne, mit denen abwandernde Firmen abgestraft werden sollen: Diese "Kauft deutsch"-Kampagne hat etwas Nationalistisches. Vor allem aber wird ignoriert, dass Deutschland 2005 schon wieder absoluter Exportweltmeister ist. Wir führen weit mehr Güter aus, als wir einführen - und verlagern damit Arbeitslosigkeit in andere Länder. Da ist es volkswirtschaftlich nur fair, wenn dieser Effekt zumindest ein wenig korrigiert wird, indem deutsche Firmen gelegentlich Jobs ins Ausland umschichten.
Aber diese Globalsicht dringt nicht durch; viel stärker beeindrucken die Fernsehbilder, die verzweifelte AEG-Mitarbeiter in Nürnberg zeigen. Sie haben ein Recht auf Wut und Trauer, und sie haben ein Recht darauf, von der Gesellschaft mehr zu erhalten als nur Hartz IV. Doch die bittere Ironie ist: Solange die empörten Fernsehzuschauer nur gebannt auf Einzelfirmen starren und Manager anklagen, wird es nie gelingen, den gesellschaftlichen Reichtum gerechter zu verteilen.
Es ist keine harmlose Nostalgie, sich "die Wiederkehr des alten Patriarchen zu ersehnen" (Greiner). Denn der moralische Appell an die Unternehmer wirkt paradox. Er erscheint wie eine ultimative Drohung, doch gleichzeitig formuliert er eine Heilserwartung, die den Kapitalbesitzern grenzenlosen Einfluss zuschreibt. Die Empörten haben vergessen, dass für das Volkswohl nicht die Bosse zuständig sind - sondern die Parlamentarier. Selbst Linke glauben heute, dass Betriebs- und Volkswirtschaft identisch seien. Sie vertrauen derart inniglich auf die Firmenchefs, dass sie vergessen, dass man ruhig die Unternehmensteuern erhöhen könnte. Stattdessen trachten sie danach, die Manager moralisch zu läutern.
Dabei berufen sich die Empörten gerne auf Artikel 14 des Grundgesetzes, der im zweiten Absatz dekretiert, dass "Eigentum verpflichtet". Allerdings macht der erste Absatz klar, dass es ein Missverständnis wäre, zu glauben, dass damit vorrangig der moralische Appell an einzelne Unternehmer gemeint wäre, der von engagierten Bürgern ausgesprochen wird. Oder von der Bild-Zeitung. Stattdessen formuliert der erste Absatz, welche "Schranken" es für das Eigentum gibt - die durch "Gesetze bestimmt" werden. Mit diesem Absatz werden übrigens so unterschiedliche Eigentumsbeschränkungen wie der Umweltschutz, der Arbeitsschutz oder auch die progressive Einkommensteuer begründet. Artikel 14 ermächtigt also den Staat, das Parlament, nicht selbst ernannte Moralisten. Warum können selbst Linke damit nichts mehr anfangen, obwohl dies urlinkes Gedankengut ist?
Vielleicht lässt sich diese merkwürdige öffentliche Empörung damit erklären, dass die Fronten so unübersichtlich sind. Die Bürger kommen mit ihren vielfältigen Rollen nicht mehr zurecht. Als Kunde profitieren sie vom gnadenlosen Wettbewerb; als Anleger freuen sie sich über Kurssprünge und hohe Dividenden. Doch als Angestellte sind sie Opfer dieser Trends - ihre Löhne stagnieren, ihre Jobs könnten eingespart werden.
Diese Zerrissenheit wird noch zunehmen. Auch durch politische Maßnahmen, die von fast allen gewünscht sind. So würden 85 Prozent aller Bundesbürger ihre Rente am liebsten weitgehend privat ansparen. Wieder sagt der Instinkt: Bloß keine Lösungen vom Staat erwarten, etwa eine steuerfinanzierte Altersvorsorge. Doch die Privatisierung würde die Pensionsfonds weiter aufblähen, die schon jetzt den rabiaten Renditekurs der Aktiengesellschaften bestimmen - siehe DaimlerChrysler.
Dieser unreflektierte Instinkt lässt sich politisch bestens ausnutzen. In den Vereinigten Staaten will Präsident Bush die Renten ebenfalls privatisieren. Sein Chefberater Grover Norquist fühlt sich so sicher, dass er die Motive sogar öffentlich erläutert: "Wenn wir mehr Leute zu Investoren machen, dann schaffen wir mehr Republikaner und weniger Demokraten." Denn Kleinanleger reagieren wie Großaktionäre: Sie werden konservativ. Wer also nicht als staatsferner Neoliberaler enden will, sollte etwas selbstkritischer sein. Es ist absurd, gegen den mangelnden Anstand von Unternehmern zu wettern - wenn es doch wahrscheinlich ist, dass der Kritiker indirekt selbst dieser Unternehmer ist.
ULRIKE HERRMANN
taz Nr. 7850 vom 20.12.2005, Seite 12, 241 Zeilen (Kommentar), ULRIKE HERRMANN
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