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Montag, 8. Mai 2006
Die westliche Linke und der Osten - ein Nichtverhältnis?
che2001, 21:57h
Vorbemerkung: Die gerade gestreifte "liberale Debatte" um meine Positionen bzw. die absurden Annahmen von stefanolix im Hinblick auf meine Person liefern nicht den Anlass für diesen Beitrag, den ich seit Wochen schreiben wollte, bestimmen aber ein Stück weit den Zeitpunkt seiner Veröffentlichung. Ich möchte hierbei den Eindruck vermeiden, ein Kategorialproblem zu beschreiben - ich kenne und kannte Ossis, die kein Problem im Umgang mit libertär-linken Positionen westlicher Prägung haben, wir hatten Jahre vor dem Mauerfall Kontakt zu DDR-Autonomen, ich habe später in einer Politgruppe der westlichen Linken mit Ossis zusammengearbeitet, mit denen es kein Selbstverständnis- oder Verständigungsproblem gab. Was ich hier beschreibe, ist also nur eine Grundtendenz.
Vom Zusammenbruch der DDR bekam ich nichts mit. Ich hielt mich zu diesem Zeitpunkt im Nahen Osten auf, und die Intensität des Ost-West-Konflikts zum damaligen Zeitpunkt war, verglichen mit den sozialen Widersprüchen und dem wechselseitigen Hass (es war die Zeit der ersten Intifada) so etwas wie eine kleine Meinungsverschiedenheit zwischen Geschwistern. Als Vertreter einer primär internationalistischen und antiimperialistischen Linken wie auch ethnologische Betrachtungen in seine Forschung einbeziehender Wissenschaftler sah ich das ohnehin ein Stück weit durch die Dritte-Welt-Brille. Gut erinnere ich mich an den Gast aus Äthiopien, der nach einem Besuch des Kaufhauses Zentrum in Ostberlin und des KaDeWe in Westberlin nach den Unterschieden an Angebot befragt wurde und zurückfragte, was denn für Unterschiede, einen derart überreichen Luxus hätte er noch nie gesehen, ihm war das Gefälle zwischen Ost und West gar nicht aufgefallen, für ihn als Menschen aus einem der ärmsten Länder der Welt war der Unterschied gar nicht wahrnehmbar gewesen.
Also, der Mauerfall. Wir wunderten uns, wieso wir von Arabern ständig gefragt wurden, was wir von einer deutschen Wiedervereinigung hielten. Auf die Idee, dass in deer DDR gerade Geschichte gemacht wurde, kamen wir nicht, sondern vermuteten, dass aufgrund der Besatzungssituation in Palästina wir Deutschen als Leute, die auch aus einem geteilten Land kamen angesehen wurden und man daher unsere Situation mit der eigenen verglich. Die ganze Bescherung sahen wir erst nach der Rückkehr. Als mein Vater mich fragte, was ich dazu sagte, meinte ich sarkastisch: "Die Mauer muss noch viel höher gemacht werden!"
Das war natürlich nicht wirklich so gemeint, ich gönnte den Ossis auch, eine Diktatur losgeworden zu sein und bewunderte, wie relativ schnell und friedlich diese Revolution vor sich ging, aber ich witterte auch, dass da Einiges geschah, dass unsere politischen Konzepte als westliche Linke durcheinanderbrachte. Nicht, dass wir dem SED-Regime eine Träne nachweinten, die Probleme lagen auf einer ganz anderen Ebene.
Die Regierung Kohl hatte zu diesem Zeitpunkt eigentlich fertig. Angetreten war sie 1982 mit der sogenannten geistig-moralischen Wende, dem Versuch eines neoliberalen Reformprogramms, dessen Fortsetzung und Vollendung wir gerade erleben. Damals war es dem Staat nicht gelungen, Sozialabbau und Einschränkung von Rechten der kleinen Leute im größeren Stil durchzusetzen. Da waren die Gewerkschaften vor, die damals noch keynesianisch gestrickte SPD, die jungen, dynamischen und starken Grünen, damals die Partei der Jugend, und eine starke außerparlamentarische Bewegung, die zum Beispiel 1987 die Volkszählung zur Farce werden ließ und deren radikaler Flügel wir waren. Was die Regierung Kohl umsetzte (schlimm genug), war die Privatisierung staatlicher Dienste und Unternehmen: Privatfernsehen, Post und Bahn wurden erst privatisiert, dann in AGs umgewandelt und an die Börse gebracht, Telekom von Post getrennt usw. 1989 war klar, dass keine dieser Maßnahmen an der Staatsverschuldung oder der Arbeitslosigkeit etwas änderte.Die Dreistigkeit, mit der etwa Bundespostminister Schwarz-Schilling familiäre Geschäftsinteressen mit seinem Amt verknüpfte, ließen Zweifel an der Lauterkeit der ganzen Privatisierungspolitik aufkommen, dazu kam die Flick-Bestechungsaffäre, die die Bundesrepublik Deutschland als mafiösen Korruptionssumpf italienischen Ausmaßes erscheinen ließ. Die schwarz-gelbe Politik stand vor einem Scherbenhaufen, einigen ihrer Protagonisten drohte die Anklagebank.
Und dann kam der nationale Taumel der Wiedervereinigung und riss alles hinweg, im Gegenteil, durch die Finanzierung der Einheit aus den Rentenkassen wurde die Verschuldung der öffentlichen Kassen auf eine dramatische Spitze getrieben, die vorher so nicht denkbar war. Ein Genosse drückte es damals so aus: "Ich bin für offene Grenzen und freies Fluten, nehme gerne so viele kurdische oder westafrikanische Flüchtlinge auf, wie wir unterbringen können, aber diese 17 Millionen Wirtschaftsasylanten auf einmal sind zu viel."
Und das war das Problem: wir hatten zum Osten keinen Bezug und die nicht zu uns. Mit einem gleichaltrigen Franzosen oder selbst Iren oder Portugiesen hatte ich mehr gemein als mit einem Sachsen, und auf die Kernzone der Ex-DDR bezogen, d.h. ohne Berlin, mondäne Orte wie Rostock-Warnemünde, Inseln wie Dresden-Neustadt oder das ehemalige Zonenrandgebiet, gilt das zumindest für die über 30 jährigen bis heute.
Die Mentalitäten sind einfach zu anders. Vom Alltäglichen abgesehen, war dies besonders im politischen Selbstverständnis zu spüren. Wenn wir uns als Linke verstanden, so hatte das vor allem mit Aufmüpfigkeit, Individualität, widerborstigem Antietatismus zu tun. Wir verstanden uns als Kräfte des Chaos, der Marxismus-Leninismus der DDR war die erstarrte Ordnung. Die lasen Marx ja gar nicht im Original, sondern hatten ein eigenes Marx-Engels-Institut, das die Klassiker umschrieb, um ihren kritischen Charakter zu negieren, ähnlich wie vor der Gutenberg- und Luther-Bibel die Vulgata zur Volksverdummung eingesetzt wurde. Entkleidet wurde vor allem das Kapital zweier wichtiger Grundpositionen: Der Wertkritik und der Kritik der kapitalistischen Arbeit. Das war auch nur konsequent, denn in der DDR wurde nach dem Prinzip der entfremdeten Fabrikarbeit produziert. Es wurden Leute, die sich freiwillig überausbeuteten, als Helden der Arbeit gefeiert, eine absurde Veranstaltung, die eins zeigte: Die DDR war weder sozialistisch noch proletarisch. Wenn wir uns ML nannten, meinten wir nicht Marx und Lenin, sondern Marx und Lafargue, Marxens Schwiegersohn, der mit Das Recht auf Faulheit ein Manifest gegen die Arbeit verfasst und das Recht auf Arbeit ein verderbliches Dogma genannt hatte. Wir analysierten streng nach dem Kapital den Zusammenbruch des Osten als den eines nicht konkurrenzfähigen kapitalistischen Akkumulationsmodells, das dem tendenziellen Fall der Profitrate nichts entgegenzusetzen hatte. Für uns war der Kasernenhofkommunismus ein Monopolkapitalismus mit dem Staat selbst als Gesamtkapitalisten, Sozialismus hingegen stellten wir uns als extrem dezentralisiertes Genossenschaftsmodell vor.
Links sein bedeutete für uns vor allem einen Lebensentwurf. Ein linkes Bewusstsein haben, Hardrock hören, moderater Konsum weicher Drogen, laxe Sexualmoral, abenteuerliche On-the-road-Touren als Urlaub, vielfältige interkulturelle Kontakte, das war für uns alle ein und dasselbe. Kamen wir nachts aus der Disco und wollten baden, stiegen wir über den Zaun vom Freibad oder schnitten ein Loch hinein, niemand wäre auf die Idee gekommen, dies als Straftat zu betrachten, wie es auch als OK galt, seinen eigenen Dopekonsum mit Verticken im kleinen Stil zu finanzieren, Hauptsache, man dealte nicht kommerziell. All diese Dinge wurden als Gewohnheitsrecht betrachtet. Auf den Parties lagen die schmusenden Paare neben der Tanzfläche, Petting war nichts, für das sich jemand zurückgezogen hätte, und nach politischen Diskussionsveranstaltungen, nach größeren Demos oder nach Tagungen ergaben sich die One-Night-Stands mit GenossInnen von selbst, nach jeder größeren Party war bei bestimmten Politgruppen das Beziehungskarussell eine Nummer weiter rotiert. Überhaupt, Politgruppen waren oft familienähnliche Lebensgemeinschaften, in denen es vorkommen konnte, das, sofern heterosexuell (oder "gemischt", wie das bei uns hieß) über die Jahre jeder Mann der Gruppe irgendwann einmal mit jeder Frau der Gruppe etwas gehabt hatte. Links sein, das war Sex and Drugs and Rock´n Roll. Wahrscheinlich wird mir Frantz.Brandtwein jetzt wieder Generationenchauvinismus vorwerfen, aber ich glaube, dass keine Generation in Deutschland so frei aufgewachsen ist wie diejenigen, die ihre Jugend- und Adoleszenzzeit in den 70er und der ersten Hälfte der 80er Jahre erlebt haben.
Und auf der anderen Seite die Ossis mit ihrem FDJ-Hintergrund. Wenig Gemeinsamkeiten, wie gesagt, junge Franzosen, Dänen, Holländer, Italiener viel näher an uns dran als die.
Was die politische Ideologie angeht, gab es zur reduktionistischen, staatstragenden Marxorthodoxie des Ostens zwar Entsprechungen in Form der DDR-treuen DKP und der diversen marxistisch-leninistischen Splitterparteien, die ich nur noch in der Phase ihres Untergangs erlebt habe, aber in unserem politischen Spektrum, der undogmatischen Linken, war das ganz anders. Ich gehörte zu den Autonomem im engsten Sinn, d.h. den Leuten, deren politische Positionen sich um die Zeitschrift Autonomie Neue Folge entwickelten und in deren Umfeld, also Materialien für einen neuen Antiimperialismus und die Schriften von Karl Heinz Roth, Detlef Hartmann, Susanne Heim und Götz Aly. Dreh- und Angelpunkt dieses Denkens war die Auffassung, dss die NS-Herrschaftspraxis noch immer Kontinuitäten im Nachkriegskapitalismus besaß, diese zuallererst zu bekämpfen waren, und im Übrigen Klassenkampf nicht an Parteien und schon gar nicht sozialistischen Staten, sondern nur an sozialen Revolten der unmittelbar Betroffenen festgemacht werden konnte. Die Mehrzahl der autonomen Szene bestand nicht aus Autonomen in diesem engen Sinne. Der Mainstream war anarchistisch, die wenigen Kommunisten waren keine Parteikommunisten, und im Lauf der Jahre kamen Leute hinzu, deren linkes Weltbild mit klassischen linken Traditionen gar nichts mehr zu tun hatte. Es war eher eine Mischung aus Bushido-Kampfsport-Ethos (Sportarten wie Karate, Escrima, Taekwondo, Capoeira, Wing Tsun übte ab einem bestimmten Zeitpunkt ein Großteil der Szene aus, ich auch), Tierre Mondisme, d.h. folkloristischer Begeisterung für alles Mögliche, das aus der Dritten Welt kam und einer Ideologie der Politcal Correctness, die Elemente aus Feminismus, Antisexismus, Antirassismus, Vegetarismus und Ökopazifismus verband.
Wenn sich heute im Osten eine ostalgische, teils fremdenfeindliche Linke formiert, hat diese zur klassischen autonomen Linken im Westen keinerlei Berührung.
Vom Zusammenbruch der DDR bekam ich nichts mit. Ich hielt mich zu diesem Zeitpunkt im Nahen Osten auf, und die Intensität des Ost-West-Konflikts zum damaligen Zeitpunkt war, verglichen mit den sozialen Widersprüchen und dem wechselseitigen Hass (es war die Zeit der ersten Intifada) so etwas wie eine kleine Meinungsverschiedenheit zwischen Geschwistern. Als Vertreter einer primär internationalistischen und antiimperialistischen Linken wie auch ethnologische Betrachtungen in seine Forschung einbeziehender Wissenschaftler sah ich das ohnehin ein Stück weit durch die Dritte-Welt-Brille. Gut erinnere ich mich an den Gast aus Äthiopien, der nach einem Besuch des Kaufhauses Zentrum in Ostberlin und des KaDeWe in Westberlin nach den Unterschieden an Angebot befragt wurde und zurückfragte, was denn für Unterschiede, einen derart überreichen Luxus hätte er noch nie gesehen, ihm war das Gefälle zwischen Ost und West gar nicht aufgefallen, für ihn als Menschen aus einem der ärmsten Länder der Welt war der Unterschied gar nicht wahrnehmbar gewesen.
Also, der Mauerfall. Wir wunderten uns, wieso wir von Arabern ständig gefragt wurden, was wir von einer deutschen Wiedervereinigung hielten. Auf die Idee, dass in deer DDR gerade Geschichte gemacht wurde, kamen wir nicht, sondern vermuteten, dass aufgrund der Besatzungssituation in Palästina wir Deutschen als Leute, die auch aus einem geteilten Land kamen angesehen wurden und man daher unsere Situation mit der eigenen verglich. Die ganze Bescherung sahen wir erst nach der Rückkehr. Als mein Vater mich fragte, was ich dazu sagte, meinte ich sarkastisch: "Die Mauer muss noch viel höher gemacht werden!"
Das war natürlich nicht wirklich so gemeint, ich gönnte den Ossis auch, eine Diktatur losgeworden zu sein und bewunderte, wie relativ schnell und friedlich diese Revolution vor sich ging, aber ich witterte auch, dass da Einiges geschah, dass unsere politischen Konzepte als westliche Linke durcheinanderbrachte. Nicht, dass wir dem SED-Regime eine Träne nachweinten, die Probleme lagen auf einer ganz anderen Ebene.
Die Regierung Kohl hatte zu diesem Zeitpunkt eigentlich fertig. Angetreten war sie 1982 mit der sogenannten geistig-moralischen Wende, dem Versuch eines neoliberalen Reformprogramms, dessen Fortsetzung und Vollendung wir gerade erleben. Damals war es dem Staat nicht gelungen, Sozialabbau und Einschränkung von Rechten der kleinen Leute im größeren Stil durchzusetzen. Da waren die Gewerkschaften vor, die damals noch keynesianisch gestrickte SPD, die jungen, dynamischen und starken Grünen, damals die Partei der Jugend, und eine starke außerparlamentarische Bewegung, die zum Beispiel 1987 die Volkszählung zur Farce werden ließ und deren radikaler Flügel wir waren. Was die Regierung Kohl umsetzte (schlimm genug), war die Privatisierung staatlicher Dienste und Unternehmen: Privatfernsehen, Post und Bahn wurden erst privatisiert, dann in AGs umgewandelt und an die Börse gebracht, Telekom von Post getrennt usw. 1989 war klar, dass keine dieser Maßnahmen an der Staatsverschuldung oder der Arbeitslosigkeit etwas änderte.Die Dreistigkeit, mit der etwa Bundespostminister Schwarz-Schilling familiäre Geschäftsinteressen mit seinem Amt verknüpfte, ließen Zweifel an der Lauterkeit der ganzen Privatisierungspolitik aufkommen, dazu kam die Flick-Bestechungsaffäre, die die Bundesrepublik Deutschland als mafiösen Korruptionssumpf italienischen Ausmaßes erscheinen ließ. Die schwarz-gelbe Politik stand vor einem Scherbenhaufen, einigen ihrer Protagonisten drohte die Anklagebank.
Und dann kam der nationale Taumel der Wiedervereinigung und riss alles hinweg, im Gegenteil, durch die Finanzierung der Einheit aus den Rentenkassen wurde die Verschuldung der öffentlichen Kassen auf eine dramatische Spitze getrieben, die vorher so nicht denkbar war. Ein Genosse drückte es damals so aus: "Ich bin für offene Grenzen und freies Fluten, nehme gerne so viele kurdische oder westafrikanische Flüchtlinge auf, wie wir unterbringen können, aber diese 17 Millionen Wirtschaftsasylanten auf einmal sind zu viel."
Und das war das Problem: wir hatten zum Osten keinen Bezug und die nicht zu uns. Mit einem gleichaltrigen Franzosen oder selbst Iren oder Portugiesen hatte ich mehr gemein als mit einem Sachsen, und auf die Kernzone der Ex-DDR bezogen, d.h. ohne Berlin, mondäne Orte wie Rostock-Warnemünde, Inseln wie Dresden-Neustadt oder das ehemalige Zonenrandgebiet, gilt das zumindest für die über 30 jährigen bis heute.
Die Mentalitäten sind einfach zu anders. Vom Alltäglichen abgesehen, war dies besonders im politischen Selbstverständnis zu spüren. Wenn wir uns als Linke verstanden, so hatte das vor allem mit Aufmüpfigkeit, Individualität, widerborstigem Antietatismus zu tun. Wir verstanden uns als Kräfte des Chaos, der Marxismus-Leninismus der DDR war die erstarrte Ordnung. Die lasen Marx ja gar nicht im Original, sondern hatten ein eigenes Marx-Engels-Institut, das die Klassiker umschrieb, um ihren kritischen Charakter zu negieren, ähnlich wie vor der Gutenberg- und Luther-Bibel die Vulgata zur Volksverdummung eingesetzt wurde. Entkleidet wurde vor allem das Kapital zweier wichtiger Grundpositionen: Der Wertkritik und der Kritik der kapitalistischen Arbeit. Das war auch nur konsequent, denn in der DDR wurde nach dem Prinzip der entfremdeten Fabrikarbeit produziert. Es wurden Leute, die sich freiwillig überausbeuteten, als Helden der Arbeit gefeiert, eine absurde Veranstaltung, die eins zeigte: Die DDR war weder sozialistisch noch proletarisch. Wenn wir uns ML nannten, meinten wir nicht Marx und Lenin, sondern Marx und Lafargue, Marxens Schwiegersohn, der mit Das Recht auf Faulheit ein Manifest gegen die Arbeit verfasst und das Recht auf Arbeit ein verderbliches Dogma genannt hatte. Wir analysierten streng nach dem Kapital den Zusammenbruch des Osten als den eines nicht konkurrenzfähigen kapitalistischen Akkumulationsmodells, das dem tendenziellen Fall der Profitrate nichts entgegenzusetzen hatte. Für uns war der Kasernenhofkommunismus ein Monopolkapitalismus mit dem Staat selbst als Gesamtkapitalisten, Sozialismus hingegen stellten wir uns als extrem dezentralisiertes Genossenschaftsmodell vor.
Links sein bedeutete für uns vor allem einen Lebensentwurf. Ein linkes Bewusstsein haben, Hardrock hören, moderater Konsum weicher Drogen, laxe Sexualmoral, abenteuerliche On-the-road-Touren als Urlaub, vielfältige interkulturelle Kontakte, das war für uns alle ein und dasselbe. Kamen wir nachts aus der Disco und wollten baden, stiegen wir über den Zaun vom Freibad oder schnitten ein Loch hinein, niemand wäre auf die Idee gekommen, dies als Straftat zu betrachten, wie es auch als OK galt, seinen eigenen Dopekonsum mit Verticken im kleinen Stil zu finanzieren, Hauptsache, man dealte nicht kommerziell. All diese Dinge wurden als Gewohnheitsrecht betrachtet. Auf den Parties lagen die schmusenden Paare neben der Tanzfläche, Petting war nichts, für das sich jemand zurückgezogen hätte, und nach politischen Diskussionsveranstaltungen, nach größeren Demos oder nach Tagungen ergaben sich die One-Night-Stands mit GenossInnen von selbst, nach jeder größeren Party war bei bestimmten Politgruppen das Beziehungskarussell eine Nummer weiter rotiert. Überhaupt, Politgruppen waren oft familienähnliche Lebensgemeinschaften, in denen es vorkommen konnte, das, sofern heterosexuell (oder "gemischt", wie das bei uns hieß) über die Jahre jeder Mann der Gruppe irgendwann einmal mit jeder Frau der Gruppe etwas gehabt hatte. Links sein, das war Sex and Drugs and Rock´n Roll. Wahrscheinlich wird mir Frantz.Brandtwein jetzt wieder Generationenchauvinismus vorwerfen, aber ich glaube, dass keine Generation in Deutschland so frei aufgewachsen ist wie diejenigen, die ihre Jugend- und Adoleszenzzeit in den 70er und der ersten Hälfte der 80er Jahre erlebt haben.
Und auf der anderen Seite die Ossis mit ihrem FDJ-Hintergrund. Wenig Gemeinsamkeiten, wie gesagt, junge Franzosen, Dänen, Holländer, Italiener viel näher an uns dran als die.
Was die politische Ideologie angeht, gab es zur reduktionistischen, staatstragenden Marxorthodoxie des Ostens zwar Entsprechungen in Form der DDR-treuen DKP und der diversen marxistisch-leninistischen Splitterparteien, die ich nur noch in der Phase ihres Untergangs erlebt habe, aber in unserem politischen Spektrum, der undogmatischen Linken, war das ganz anders. Ich gehörte zu den Autonomem im engsten Sinn, d.h. den Leuten, deren politische Positionen sich um die Zeitschrift Autonomie Neue Folge entwickelten und in deren Umfeld, also Materialien für einen neuen Antiimperialismus und die Schriften von Karl Heinz Roth, Detlef Hartmann, Susanne Heim und Götz Aly. Dreh- und Angelpunkt dieses Denkens war die Auffassung, dss die NS-Herrschaftspraxis noch immer Kontinuitäten im Nachkriegskapitalismus besaß, diese zuallererst zu bekämpfen waren, und im Übrigen Klassenkampf nicht an Parteien und schon gar nicht sozialistischen Staten, sondern nur an sozialen Revolten der unmittelbar Betroffenen festgemacht werden konnte. Die Mehrzahl der autonomen Szene bestand nicht aus Autonomen in diesem engen Sinne. Der Mainstream war anarchistisch, die wenigen Kommunisten waren keine Parteikommunisten, und im Lauf der Jahre kamen Leute hinzu, deren linkes Weltbild mit klassischen linken Traditionen gar nichts mehr zu tun hatte. Es war eher eine Mischung aus Bushido-Kampfsport-Ethos (Sportarten wie Karate, Escrima, Taekwondo, Capoeira, Wing Tsun übte ab einem bestimmten Zeitpunkt ein Großteil der Szene aus, ich auch), Tierre Mondisme, d.h. folkloristischer Begeisterung für alles Mögliche, das aus der Dritten Welt kam und einer Ideologie der Politcal Correctness, die Elemente aus Feminismus, Antisexismus, Antirassismus, Vegetarismus und Ökopazifismus verband.
Wenn sich heute im Osten eine ostalgische, teils fremdenfeindliche Linke formiert, hat diese zur klassischen autonomen Linken im Westen keinerlei Berührung.
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