Sonntag, 15. August 2010
Jawohl, Oskar Negt, so kann man das sagen!
Wenigstens ein lebender Vertreter der Kritischen Theorie sagt auch heute noch Dinge, die ich für voll und ganz richtig erachte, und wenigstens einmal macht es Spaß, im SPIEGEL zu lesen.



"Wir befinden uns in einer Phase des Umbruchs und vor allen Dingen auch in einer Zwischenwelt der Ratlosigkeit. Die Probleme unserer Arbeitsgesellschaft spitzen sich derart krisenhaft zu, dass der innere Zusammenhalt des demokratischen Gemeinwesens nicht mehr gesichert scheint. In dieser brisanten Lage zwischen einem Nicht-Mehr und einem Noch-Nicht müsste die gesellschaftliche Phantasie eigentlich alle Kräfte darauf konzentrieren, Auswege zu suchen und zu finden. Stattdessen bildet sich eine zwiespältige Wirklichkeit, eine Aufteilung von Wirklichkeitsschichten."......"Das sind ja keine richtigen Reformen, sondern bestenfalls kosmetische Korrekturen, Randerscheinungen halt. Vergleichen Sie das gegenwärtige Flickwerk mal mit den preußischen Reformen von Stein und Hardenberg nach der Niederlage gegen Napoleon, mit Bismarcks Sozialgesetzgebung oder mit der Domestizierung des Kapitalismus durch den Sozialstaat bei der Gründung der Bundesrepublik!

SPIEGEL: Mit Verlaub: Das sind Wendepunkte der Geschichte, zum Teil erzwungen durch große Katastrophen, mit denen die Wirtschafts- und Finanzkrise, die wir heute erleben, kaum vergleichbar ist.

Negt: Mein erkenntnisleitendes Interesse, meine Idee von der sozialen Verantwortung des politischen Menschen besteht gerade darin, solche historischen Unglückskonstellationen rechtzeitig aufzudecken und sie durch eingreifendes Denken zu verhindern, statt zu warten, bis die kollektive Katastrophe passiert ist. Insofern ist mein Buch auch als eine Art Notschrei gemeint.

SPIEGEL: Nach dem Scheitern des Sozialismus ist aber kein neues Weltprojekt, kein radikal anderer Gesellschaftsentwurf zu sehen.

Negt: Ja, das bestimmende Merkmal der Krisenbewältigung ist heute die gleichsam betriebswirtschaftliche Rationalisierung der gesellschaftlichen Einzelbereiche. Die Realität, mit der wir konfrontiert sind, hat eine gespensterhafte Qualität. Ein Rettungsfonds von 480 Milliarden für angeschlagene Banken - das ist für mich eine negative Utopie. Noch vor zwei, drei Jahren hätte man sich so etwas nicht vorstellen können. Die Realitätslosigkeit dieses Umgangs mit der Krise ist eines der wesentlichen Motive, die mich umtreiben."

"als kritische Methode enthält das Denken von Marx und Engels nach wie vor tragfähige Leitmotive. Der Tod der Utopien, der nach 1990 so lauthals gefeiert wurde, hat dazu geführt, dass wir es in Politik und Wirtschaft mit sogenannten Realisten, Tatsachenmenschen zu tun haben, die nur noch darauf verweisen, was nicht geht, so dass die Potentiale, die in der Gesellschaft stecken, nicht zur Entfaltung kommen.

SPIEGEL: Das heißt, es bildet sich keine Kraft, die eine tragfähige Alternative aufbauen könnte? Droht die politische Ordnung an ihrem Stillstand zu scheitern, nicht an äußeren Mächten?

Negt: Die gegenwärtig vorherrschende Form des falschen, verdrehten Bewusstseins, das, was ich die Ideologie betriebswirtschaftlicher Rationalisierung mit ihrer Umverteilung nach oben und dem Sparzwang nach unten nenne, läuft den traditionellen Emanzipationsidealen von Aufklärung, Gerechtigkeit, Solidarität, Gleichheit zuwider. Dieser verkürzte, auf Anpassung an das Bestehende ausgerichtete Realitätssinn höhlt die politische Moral aus und gefährdet damit das Fundament unserer Demokratie."


http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,710880,00.html

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Ein Wahrnehmungsproblem
Negt sagt: "Vergleichen Sie das gegenwärtige Flickwerk mal mit den preußischen Reformen von Stein und Hardenberg nach der Niederlage gegen Napoleon, mit Bismarcks Sozialgesetzgebung oder mit der Domestizierung des Kapitalismus durch den Sozialstaat bei der Gründung der Bundesrepublik!"

O.k., ich vergleiche mal. Im von Willy Brandt diagnostizierten Nord-Süd-Konflikt ist die BRD ein Siegerstaat. Stein, Hardenberg und Erhard waren nachholende Modernisierer, Egalisierer der historischen "Ungleichzeitigkeit" Deutschlands. Und Bismarck zählt überhaupt nicht, denn die deutsche Wirtschaft war "repressiver" strukturiert als bspw. die englische. Da brauchte es schon auch ein Sozialistengesetz - und ein "Linkengesetz" haben wir derzeit noch nicht, obwohl die Verfassungsschutzschnüffelei natürlich schlimm genug ist.
Früher wollten Linke die Unterprivilegierung einer Klasse aufheben. Unterprivilegierung gibt es noch, die Klasse - und damit das latente Subjekt politischer Aktion - aber nicht mehr.

Der letzte, von Dir zitierte Negt-Absatz trifft es aber sehr, sehr gut. Und Habermas sieht das m. W. genauso. Dto. viele, mittlerweile sehr alt gewordene Sozialdemokraten (solche, die den Namen noch verdienen).
Der Hauptschub der bundesdeutschen Modernisierung fand jedoch in den ersten zehn Jahren sozialdemokratischer Regierungsbeteiligung statt, nicht unter Adenauer/Erhard.
Solange sich die Bevölkerung hier gegen die Griechen (und demnächst gegen die Spanier etc.) aufhetzen lässt und es keine europaweite linke Perspektive gibt, wird sich auch nichts ändern.

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Die Klasse gibt es nicht mehr? Ich würde ja mit Karlo Roth von der permanenten Neuzusammensetzung der Klasse im Weltmaßstab sprechen. Erzähl mal nem Kartoneinräumer bei Aldi oder ner Raumpflegerin was davon, dass es die Klasse nicht mehr gäbe. Seit ich Seminare in der Erwachsenenbildung gebe bin ich ohnehin erstaunt, wie viele klassenbewusste Proleten es so gibt. Es scheint mir eher so zu sein, dass das Sichbefassen mit linker Theorie so ein Mittelschichtending ist, und diese Mittelschichtler erklären dann gerne die Klasse für abgeschafft. Erinnere mich da lebhaft an eine Fete, auf der ein Historikerkollege, der aus einer klassischen Malocherfamilie kam und sich geradezu traumatisiert dadurch fühlte, dass er auf der Uni von lauter Mittelschichtlern umgeben war, die er als existenziell bedrohliche Konkurrenz wahrnahm (immer besser sein müssen als die, wo die vom Elternhaus alles zugesteckt kriegen, und am Ende kriegen die doch die besseren Jobs) auf die Frage, was er gerade forsche erwiderte: "Ich beschäftige mich damit, wie sich klassenspezifische Sozialisation auf Berufswahl und Lebensweg auswirkt und insbesondere die Unterschiede zwischen der Nachkriegszeit und heute." Da meinte eine Kollegin mit ausgesprochenem Middleclass-Hintergrund: "klassenspezifische Sozialisation? So redet doch heute kein Mensch mehr, und ich möchte bezweifeln, dass es das in dieser Form noch gibt." und bekam als Antwort: "Ja, dass eine Mittelschichttusse wie Du das so sieht kann ich mir vorstellen."

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Die Klasse
O.k., meine Formulierung vermengt qualitative und quantitative sowie subjektive und objektive Aspekte. Abgesehen davon, dass Du mir womöglich zustimmst, dass Negts historische Vergleiche auf ziemlich wackligen Beinen stehen und allesamt tendenziell auf Aufklärung von oben resp. aus dem Ausland rekurrieren, will ich Deine Beispiele gar nicht bestreiten. Die sind aber zunächst anekdotisch.
Klassische linke Theorie scheint mir jedoch in der Formulierung von "der permanenten Neuzusammensetzung der Klasse im Weltmaßstab" zu stecken. Und da ist genau der Haken: die sozialen Absteiger entwickeln oft ein ganz rigides Bedürfnis zur Abgrenzung von ihrer eigenen ökonomischen Lebensrealität, ein veritables gespaltenes Bewusstsein. Ich wohne in einer Stadt, die mal bundesweit für ihre Nazis bekannt war. Die Distribution politischer Aufkleber sieht hier so aus, dass solche der Linkspartei in Bildungsinstitutionen zu finden sind, diejenigen der Nazis hingegen in den Hauseingängen des Hartz IV-Wohnungsbaus.

Ich modifiziere also meine Aussage dahingehend, dass, was immer man unter dem Klassenbewusstsein oder der politischen Selbstwahrnehmung einer unterprivilegierten Mehrheit verstehen will, durch semi-imaginäre Statusdichotomien wie Migrant/Einheimischer und Arbeiter/Angestellter/Beamter/Flexibilisierter untergraben worden ist. "Die Klasse gibt es nicht mehr" soll also heissen: die politisch handlungsfähige Klasse gibt es nicht mehr.

Habe vor kurzem mit einer belgischen Freundin gesprochen. Es ist absolut pervers, wie im Zentrum der EU extreme ethnozentrische Wahnvorstellungen zum Hauptinhalt des politischen Alltags werden und den Fortbestand des belgischen Staats zu gefährden drohen (Belgien könnte durchaus vor den angeblichen PIGS - was für ein beschissenes Akronym - dran sein).

Und die theoretisierenden Mittelschichtler - könnten das nicht die kritischen Theoretiker sein, die sich strukturelle Reform als von oben oder aussen kommend vorstellen?
Wobei ich mich in der Tat vor die Frage gestellt sehe, ob ich selbst bewusst diesen Schluss ziehen und diese Voraussetzung machen soll. Negt scheint aber gar nicht klar zu sein, dass er das tut. Das ist mir rätselhaft. Und Du als Ex-Autonomer müsstest dafür eigentlich ebenfalls eine Antenne haben, wenn Du mal auf 40 Jahre italienischer Geschichte zurückblickst.

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Die Antennen habe ich natürlich, und zu Italien könnte ich jetzt ein ganzes Fass aufmachen. Aber extrem prägend war für mich halt, dass mein autonomer Gruppenzusammenhang einer war, in dem Langzeitarbeitslose, Studierende, Berufstätige (hauptsächlich Selbstständige, aber z.B. auch ein Baggerfahrer), Deutsche und AsylbewerberInnen bzw. Bürgerkriegsflüchtlinge zusammenwirkten und zusammenlebten. Ich kenne das Gegenteil der allgegenwärtigen Entsolidarisierung als über einen langen Zeitraum meine primäre Lebensrealität. Morgen oder demnächst mehr dazu.

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