Freitag, 26. Juni 2020
Lebenslanges Lernen
Ich las gerade wieder einmal, lebenslanges Lernen sei heute absolut notwendig um voranzukommen, die Modernisierungsverlierer erkenne man daran, dass sie dazu nicht bereit seien. Auch wenn in diesem Satze so manche neoliberale Lebenslüge sich versteckt, zumindest kann ich sagen, dass ich ganz und gar nach der Prämisse des lebenslangen Lernens lebe.

Nach dem Abi Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Kunstgeschichte, dann Mittlere und Neuere Geschichte, Politikwissenschaft und PUK studiert, dann PR-Referent einer Menschenrechtsorganisation, Reporter beim SPIEGEL, zurück an die Uni und fächerübergreifend in Geschichte und Politikwissenschaft zu einem anthropologiegeschichtlichen Thema promoviert, anschließend Fremdenführer auf einer Burg, dann Weiterbildung zum Onlinemediengestalter, anschließend Marketing Manager einer Software AG, dann Pressesprecher eines Baukonzerns, Weiterbildung Business English, Lehrer am Gymnasium, selbstständiger Druckgrafiker, Baufinanzierer, Ausbildung zum Versicherungsfachmann, inzwischen multipler Selbstständiger: Finanzberater, Dozent in der Erwachsenenbildung und Journalist. Zwischendurch auch noch Ratsherr.

Was kommt als Nächstes?

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Obwohl das ein eindrucksvoller Lebenslauf ist, würde ich eher frühzeitige Spezialisierung empfehlen: ein Studium in einem bestimmten Bereich, das man später noch mit fachspezifischen Qualifikationen ausbaut. Du kannst dich wahrscheinlich sehr gut verkaufen, aber jemand, der halb so alt ist und seine Qualifikationen wie eine Backsteinmauer aufeinander aufgebaut hat, wird von Personalern häufig bevorzugt, weil er zielstrebiger wirkt und man nicht befürchten muss, dass er in drei Jahren auf Zoowärter oder Rettungssanitäter umsattelt.

Außerdem kommt es immer darauf an, auf welchem Level man arbeitet: Gerade im PR-Bereich gibt es bis zum mittleren Agenturen-Segment viele Quereinsteiger, genau wie im Marketing. Versuch dagegen, bei richtig guten Arbeitgebern mit einem Patchwork-Lebenslauf anzuheuern und du bekommst häufig nicht mal eine Antwort.

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Ich habe mir das alles nicht ausgesucht, sondern bin als Getriebener von einer Tätigkeit zur nächsten gekommen. Ich betrachte mich als verkrachte Existenz auf hohem Niveau. In den USA übrigens würde ein solcher Patchwork-Lebenslauf bei Personalern Begeisterung hervorrufen.

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@" würde ich eher frühzeitige Spezialisierung empfehlen: ein Studium in einem bestimmten Bereich, das man später noch mit fachspezifischen Qualifikationen ausbaut." ---- Ich betrachte ein Studium als eine Zeit kreativer Muße, in der man sich selbst ausprobiert und Wissen sammelt, eine Wahrnehmung des Rechts auf Faulheit, nicht als Berufsausbildung. Student als subkulturelle Lebensform. Als ich studierte tat ich das im Bewusstsein, sozusagen auf den Sozialhilfeempfänger hinzustudieren. Gemessen daran bin ich geradezu ein Karrierist, was in meinen studentischen Lebenszusammenhängen übrigens ein Schimpfwort in etwa der gleichen moralischen Verurteilungsklasse wie Zuhälter war. "Die große Weigerung", um mit Marcuse zu sprechen, war für mich und mein Umfeld in den 20er und frühen 30er Jahren unseres Lebens Lebensgrundlage.

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"Ich betrachte ein Studium als eine Zeit kreativer Muße"

Ich habe auch noch in Vor-Bologna-Zeiten ein geisteswissenschaftliches Magisterstudium absolviert, mit derselben Einstellung. Doppelt so lange wie Regelstudienzeit, mit Exkursen in die Theater- und Schauspielszene. Das funktioniert, solange die Konkurrenz im Arbeitsmarktsegment nicht mit gestreamlinten Lebensläufen ohne jede Rechtfertigungslücke daherkommt - oder man sich in Branchen bewirbt, wo es eine gewisse Sympathie für Paradiesvögel und Selbstdarsteller gibt. Es gibt Bewerbungsgespräche, die funktionieren zu 50 Prozent über Habitus und Pitch - andere eben nicht.

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@Rechtfertigungslücke
genau da kann angesetzt werden. wer wegen einer "rechtfertigungslücke" nicht zur arbeitsleistung zugelassen wird, soll keine arbeitslosenhilfe oder gar sozialhilfe bekommen. sie/er hat anspruch auf angemessene entschädigungszahlungen. die gesellschaft soll das, meinetwegen, als strafzahlungen empfinden.

wie auch gegen den begrifflichen unfug des "arbeitgebers" vorgegangen werden muss. der "arbeitgeber" ist profaner geldgeber, der damit die erhaltene arbeit des arbeitgebers (= hackler) bezahlt.

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Wobei ich ein Lebensweltsegment kenne, wo ein Strafprozess wegen einer Straftat mit politischem Hintergrund Voraussetzung für die persönliche Integrität/Glaubwürdigkeit/Streetcredibilty ist.

Als ich mein erstes Verfahren hatte, das erst nach 129A aussah, dann aber doch nur auf Sachbeschädigung hinauslief wurde mir von den Szenegrößen "Jetzt gehörst Du richtig dazu" signalisiert.

Wahrscheinlich hätte ich meinen ersten Job nach der Uni ohne diesen Hintergrund nicht bekommen.

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