Montag, 2. Januar 2017
Von Diskursen, sozialen Gruppen und sozialer Kompetenz
Insgesamt habe ich 18 Jahre meines Lebens eng in linkssubkulturelle Szenezusammenhänge eingebunden gelebt, wozu die 7 Jahre meines Studiums gehörten, aber eben nicht nur, nicht einmal schwerpunktmäßig, wenn gerade diese Zeit auch besonders prägend war. Erlernt wurde dort vor allem ein bestimmte Art von Sozialverhalten. Gelernt fürs Studium wurde in Gruppen, es wurden auch autonome Seminare als selbstorganisierte Gegenveranstaltungen gegen den offiziellen Lehrbetrieb veranstaltet, es fanden zweimal im Semester Klausurtagungen statt, wo wir uns für ein verlängertes Wochenende in einer Berghütte oder einem Tagungshaus einquartierten, und dann wurde da politische Texte von Marx bis Alltagssexismus ebenso diskutiert wie unsere Strategie als Politgruppe, gemeinsam gekocht, gegessen, getanzt und geliebt. Inklusive therapieartiger Diskussionen unseres Sozialverhaltens auf dem heißen Stuhl. Wir vertraten nicht nur sozialistische Inhalte, wir waren auch eine soziale Gruppe. Das setzte sich auch nach dem Studium fort. Es war selbstverständlich, dass Genossinnen aus einer anderen Stadt die ein Quartier brauchten bei einem pennen konnten, es war ebenso selbstverständlich, dass wir darauf in anderen Städten Anspruch erheben konnten, niemand benötigte je ein Hotel, selbst wenn das bedeuten konnte gemeinsam in einem Bett zu schlafen. Es war selbstverständlich dass jemand mein Auto haben konnte wenn er/sie keins hatte und eben mal eines brauchte. Dass alles war so selbstverständlich dass es nicht einmal thematisiert wurde. Wenn eine Wohnung renoviert werden musste oder jemand umzog gab sich die halbe Szene ein Stelldichein, und bei den Genossinnen mit Hand anzulegen wurde als Grundregel sozialer Kompetenz angesehen.

- Wenn ich heute linke oder feministische Diskurse verfolge tue ich das mit einem ähnlichen Interesse wie damals, wie damals mit einer ambivalenten Mischung aus Empathie, Solidarität, Kritik, Belustigung und Entsetzen, je nachdem. Zumindest bezüglich gebloggter Auseinandersetzungen und auch bezogen auf zumindest einen Teil der wenigen betreffenden Menschen die ich auch real kennenlernen konnte habe ich allerdings den Eindruck, dass von dieser Selbstverständlichkeit im sozialen Miteinander nichts vorhanden ist. Ich könnte mir allerdings auch kaum vorstellen dass Leute wie **** oder ****** sonderlich hilfreich bei einem Umzug oder einer Renovierung wären;-)

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Offensichtlich verstanden sich in der ersten Phase, die du beschreibst, alle als gleiche. Gleich an Rechten und gleich an Pflichten. Ich kenne das so auch, obwohl ich nicht so sehr in Szenezusammenhänge eingebunden war.

Heute ist das so nicht mehr gegeben, am wenigsten unter Linken, die ja heute nicht mehr von der Gleichheit aller Menschen ausgehen, sondern sich bizarre Theorien angeeignte haben, um Menschen sorgfältig in Schubladen zu sortieren; Weiße und PoC, Frauen und Männer, Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten. Zwischen diesen Gruppen ist ein derart ungefangenes Vehalten nicht mehr möglich, und ich stelle mir vor, dass da Situationen großer Peinlichkeit entstehen können.

Übrigens kann man das immer noch so erleben in Südamerika (und ich denke auch in anderen Teilen der Welt, die ich nicht kenne). Wenn du die Sprache sprichst und durch deine Haltung klarmachst, dass du dich nicht für was besonderes hältst, dass dich die einfachen Lebensbedingungen nicht anekeln, dass du ihnen gegenüber aber auch keine Komplexe oder Schuldgefühle hast, wirst du als gleicher akzeptiert.
Kann eine sehr bereichernde Erfahrung sein.

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Tja, mit solchen befindlichkeitsfixierten snowflakes kannst Du wahrscheinlich auch nichts ernsthafteres anfangen als Schneemänner bauen.

Ansonsten: Ganz so kommunitaristisch ging es in meinen nicht so linken Kreisen dann doch nicht zu. Mit meinem Auto war ich nicht so freigiebig, schon allein aus Sorge, die Karre könnte beschlagnahmt werden, wenn sie in nicht ganz legalen Aktivitäten verwendet wird. Ich bin dann im Zweifelsfall lieber selber gefahren, wenn jemand eine Transportmöglichkeit brauchte... ;-)

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@willy, das mit der sehr bereichernden Erfahrung kann ich aus meinen Nahost- und Nordafrika-Erlebnissen bestätigen, ein alter Genosse aus Westafrika. Dennoch denke ich, dass Du zu sehr auf Ideologien und Inhalte abhebst. Einen extremen Moralinfeminismus gab es in meiner linken Szene auch, und es konnte ausreichen, als linker Mann einen Sexshop zu betreten oder den Playboy rumliegen zu haben, um aus der eigenen Politgruppe ausgeschlossen zu werden. Die erschreckende Tatsache, dass es in Szenezusammenhängen Vergewaltigungen gegeben hatte führte in der Folge zu einer outet-die-Sexisten-Stimmung, die am Ende dazu führte, dass Fälle als "Vergewaltigungen" öffentlich gemacht wurden bei denen es keinen Geschlechtsverkehr gegeben hatte, und linke Männer suchten sich ihre Beziehungen zunehmend außerhalb der Szene. Die enge soziale Bindung funktionierte auch nur unter rigoroser Abschottung nach außen, verbunden mit einer Bullenspitzel-Paranoia. Immerhin führte die dazu dass die Szene nicht kontrollierbar war, niemand wäre etwa auf die Idee gekommen wichtige Dinge am Telefon zu besprechen. Gespräche zu Themen mit strafrechtlicher Relevanz wurden bei aufgedrehter Stereoanlage, laufender Dusche und mit Telefon und Kofferradio im Kühlschrank geführt. Ich erinnere mich noch an die Anwaltskanzlei, in der jeden Morgen der Metalldetektor über die Wände fuhr.

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