Samstag, 25. Februar 2006
Zum 10. Todesjahr: "Tempo" in der Wikipedia
Was Wikipedia so über die Zeitschrift Tempo schreibt, nimmt mich Wunder. http://de.wikipedia.org/wiki/Tempo_%28Zeitschrift%29

Mit Tempo kam der New Journalism nach Deutscland, Tempo war innovativ, soso. Abgesehen davon, dass es sich letztlich um ein deutsches Remake des Wiener handelte, hatten schon vorher Stadtzeitungen den Trend gesetzt, der nun lediglich überregional nachvollzogen wurde: Ab 1983 der Berliner Tip, ab 1984 das Hiero Itzo in Göttingen, ab 1985 ebenfalls in Göttingen der Charakter. Für uns waren alle diese Trendsettermagazine Feindpresse: Propagandaorgane des Yuppie-Lebensstils, der von uns Linken als eklig angesehen wurde und soziokulturell gesehen als bekämpfenswert galt, verschärft noch einmal durch solche Leute:
http://www.insight-online.de/Fragebogen/index.php?id=19,

also Träger dieser Art von "new journalism", die, heute Anti-Imp-Zirkel, morgen Kirch-Gruppe, als Verräter unserer Ideale galten.

Gelesen haben wir das Tempo trotzden, heimlich, auf dem Klo, oder am WG-Küchentisch, um uns über die Inhaltsleere aufzuregen. Auch wenn wir es nicht eingestanden, irgendwo hatten die bunten Bilder ihren Reiz. Ein Linker als bekennender Tempo-Leser wäre aber so undenkbar gewesen wie Alice-Schwarzer als Playboy-Leserin. Heute sieht man das alles in einem milderen Licht, man hat ja selbst Karriere gemacht und sich irgendwie arrangiert, gegenüber früheren Mitstreitern, die die eigenen Genossen ganz unmittelbar behumst und abgezockt haben, erscheinen auch die alerten Karrieristen als weniger schlimm. Heutzutage, wo es von Blättern wie Max, Prinz, Esquire, GQ, Men´s Health etc. wimmelt, sehnt man sich fast zurück nach der Zeit, als ein paar Stadtmagazine, Tempo und Wiener eine inselartige Sonderstellung hatten. Wunder nimmt mich bei der Wikipedia-Darstellung allerdings die Tatsache, dass Coupé als eines der Blätter bezeichnet wird, die dem Tempo das Wasser abgruben. Coupé? Das ist eine Billigillustrierte mit Soft-Porno-Komponente, ein Blatt, das ich zwischen Super-Illu, St.Pauli-Nachrichten und Gala ansiedeln würde, oder in der Nähe der Praline. Was das nun allerdings mit new journalism und dem ja bewusst elitären Trendsetting von Tempo und Wiener zu tun haben soll, erschließt sich mir nicht. Selbst wenn die Computer-Bild der Page Anzeigenkunden abgräbt, ähneln sich dadurch noch nicht die Blätter .

... comment

 
Anknüpfend an die Diskussion hier
http://netbitch1.twoday.net/stories/1575267/#comments

würde ich sagen, Tempo traf einfach nicht den Stil der Linken, zumindest nicht nördlich des Mains.

Zit.:Thematisch befasste sich Tempo mit Themen zwischen Konsum und Rebellion, AIDS und Armani sowie Pop und Hochkultur. -Ich gehe jede Wette ein, wären das Drogenkonsum und Rebellion, AIDS und Hein Gericke/Dr.Martens sowie Hard Rock und Subkultur gewesen, Du wärst auf die Zeitung abgefahren.

... link  

 
O Tempo, RAAAHHH, O mores!
Drei Antworten:

1)Das Problem liegt eher darin, dass meinereiner grundsätzlich dagegen war, PR oder gar produktbezogene Werbung und journalistische Inhalte zu vermengen (spricht jemand, der heute von PR und Marketing lebt, höhö!), und genau das hat Tempo gemacht. Sowohl ich selbst als auch mein Umfeld haben viele Zeitschriften regelmäßig gelesen und für unseren Alltag wichtig gefunden, das waren vor allem Konkret und Titanic, Horst Sterns Natur und das von der Stoßrichtung ähnliche, aber kommerziellere Magazin Chancen, Tante Zeit, die taz und natürlich Szenemedien wie Atom-Express, Arbeiterkampf, MOZ, BUKO oder clockwork 129a, Subversion und Autonomie. Ich wäre aber niemals auf die Idee gekommen, mein Lebensgefühl mit einer Zeitschrift zu identifizieren oder aus einer Zeitschrift abzuleiten, welcheKlamotten ich mir anziehe, in welche Lokalität ich gehe, welche Musik ich höre oder was ich esse. Die Idee als Solche wäre mir schon als die völlige Aufgabe von Individualität erschienen

2) Klar hätte ich eine solche Zeitschrift voll geil gefunden! :-))))))

3) @regional: Da gibt es ja nicht nur die Nord-Süd-Unterschiede. Schau Dir einen jüngeren Menschen mit mehrfarbigen Haaren, reichlich Piercings, zerrissenen Hosen und DocMartens an, so wird der puren Wahrscheinlichkeit nach in Braunschweig diese Person ein heroinabhängiger Langzeitarbeitsloser, in Göttingen ein Kind aus gutem Hause mit wahnsinnig viel sozialem Engagement und einer ausgefeilten linken Überzeugung und in Kassel entweder Dozent in einer Kulturwissenschaft oder Bandmalocher bei VW sein.
:-)

... link  


... comment