Sonntag, 2. April 2006
Die Infantilisierung der Gesellschaft
In der Zeit habe ich einen lesenswerten Themenschwerpunkt zu den Protesten in Frankreich verfolgt und dem seltsamen Umstand, dass in Deutschland oder Großbritannien niemand rebelliert . Erklärt wurde dies mit der unterschiedlichen Sozialisation von Studentengenerationen. Rebellierte man in den 60ern und 70ern gegen Nazi-Eltern und Nazi-Lehrer und hatte die Jugendrevolte deswegen notwendigerweise einen linken Charakter, fielen Adoleszensrevolte und politische Oppositionsbewegung aus historischer Notwendigkeit zusammen, so zeichneten sich die 80er durch Diversifizierung aus. Linker Protest richtete sich zunehmend gegen die bereits etablierten 68er, entsprechend verschob sich das subkulturelle Kostüm von Hippie zu Punk, gleichzeitig rebellierten schon die ersten Kinder der 68er gegen ihre Elterngeneration, insofern wäre es grundfalsch, in der Haltung der Popper und Yuppies gesellschaftliche Angepasstheit zu sehen. Dann waren die 80er die Zeit des ausgeprägten Hedonismus und der Mega-Parties, des Aufkommens immer schneller wechselnder Zeitgeist-Moden und der Enttabuisierung bislang eher randständig betrachteter sexueller Neigungen (Stichwort Neue Sinnlichkeit). Die 90er brachten, wie ich sie mal salopp nenne, die Generation Modeste: Von ideologischem Denken weit entfernte Leute (falls keine Ideologie haben nicht auch eine ist), die das Weltgeschehen mit ironischer Distanz betrachteten, für das in den vorangegangenen Generationen selbstverständliche politische Engagement weiter Teile der akademischen Jugend aber kein Verständnis aufbrachten. Die darauf folgende aktuelle Studentengeneration ist geprägt durch Harmonie: Verständnisvolle, aufgeklärte Eltern, praller Wohlstand von Anfang an, eine konfliktarme Kindheit und Jugend - und jetzt plötzlich das Fehlen einer Zukunftsperspektive, bzw. eine Zukunft, die sich mit "Generation Dauerpraktikum" bezeichnen ließe. Im Gegensatz zu den Studierenden der 60er, 70er und 80er haben sie nie für ihre Interessen zu kämpfen gelernt, und nun sind auf einmal sie härteren Zumutungen ausgesetzt als in der Nachkriegszeit je eine Generation vor ihnen. Das ist schwer, da findet sich die Antwort nicht so schnell.

Ich habe gerade im Kino "Basic Instinct 2" gesehen, möglicherweise der raffinierteste Psychothriller, den ich je genießen konnte. Sharon Stone erinnerte mich an eine Frau, mit der ich als 26jähriger (sie war 23) mal ein Kurztechtel hatte. Also, das war natürlich keine Serienkillerin, aber die gleiche Art von cooler, arrogant-raffinierter Dominanz, der gleiche Typ männermanipulierender Vamp. Um mich herum im Kino sitzen lauter Leute in dem Alter, in dem wir damals waren. Ich schaue mir beim Rausgehen die Gesichter der Frauen an. Lauter liebe, unschuldige Puppengesichter. Ich hätte echt Schwierigkeiten, mir bei einer heute 23 jährigen die Verruchtheit meiner damaligen Begegnung vorzustellen. Das gleiche erlebe ich bei meiner Vorzimmerdame oder jungen Männern im Alter von 22-25, mit denen ich zusammenarbeite: Sie erscheinen mir so, wie wir mit 17 waren. Ich erinnere mich, dass der damalige Freund meiner großen Schwester mir seinerzeit sagte, als er 17 gewesen wäre, wäre er weitaus selbstständiger gewesen als meine Generation.

Auf der anderen Seite, Sharon Stone steht wie Madonna für die andere Seite der selben Medaille: Diese Frauen sind jung und schön und dennoch Mitte bis Ende 40. Von Filmdiven abgesehen, hatten Frauen in dem Alter in den 70ern Oma-Habitus: Blauer Faltenrock, Dutt, Dufflecoat, ohne erotische Lockzeichen.

Wo soll das noch hinführen? Rente mit 80, Wahlrecht ab 30, Job als hochqualifizierte Migrationsarbeitskraft in Kasachstan, Sudan, Kosovo
oder auch in Merry Old England oder Schweden?

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... ach che lass' mal gut sein, nicht ueber 'die jugend' laestern - die sind schon so gut wie sie sind (mit all dem durchgeknallten minderwertigen quatsch der ihnen durch ihre kleinen mtv/viva/rtlII verschrumpelten hirnreste zieht) - aber ein frueher war alles besser hoeren die genauso gerne wie unsereins zu seiner zeit - und genauso bloed und hirnverbrannt wie der spruch damals war ist er heuer immer noch ....

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Ich behaupte ja gar nicht, dass früher alles besser war, immerhin habe ich auch "Die Sinnlosigkeit, erwachsen zu werden" gelesen und vielleicht werde ich auch einfach alt. Meine Beobachtungen bleiben trotzdem....

Ich sehe mich ja durchaus als zukunftsoffenen Menschen, insofern würde ich eher sagen "heute ist es besonders scheiße", nicht "früher war s besser". Und ich mache mir um die jungen Leute echt Sorgen. Wie das klingt, eigentlich war ich gerade auch noch junger Leut.

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Die Kurve des gefühlten (das mußte ich jetzt mal bringen - es wird ja nix mehr gewußt sondern nur noch gefühlt) Infantilisierungsindex hat den Scheitelpunkt überschritten. Die jetzt 17 bis 24-Jährigen, die ich kenne, haben teils schon den Bankrott der elterlichen Klitsche mit Verlust des eigenen Ausbildungsplatzes, WG-Leben unter Harz-Bedingungen und siechende Verarmung am eigenen Leib erfahren. Das schärft doch in frühen Jahren den Blick und die Kids sehen auch recht klar, wem sie das zu verdanken haben. Was meine Generation vielleicht so irritiert, ist die fehlende Suche nach Organisationstrukturen für dieses unpolitische Politikinteresse. Aber das kommt vielleicht noch.

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Da kennen wir vielleicht auch einfach verschiedene Leute. Was Du schreibst legt einen baldigen Aufbruch nahe.

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