Sonntag, 26. Februar 2006
Die neoliberale Falle
Schon etwas älter - aus der taz von kurz vor Weihnachten, doch noch immer aktuell:

Unternehmer sollen Anstand zeigen und keine Leute entlassen, fordern nicht nur Linke. Das ist unpolitisch: So kommt es nie zu Gerechtigkeit, die Chefs können sich freuen
Die Öffentlichkeit ist empört. DaimlerChrysler streicht 8.500 Stellen, die Telekom gleich 32.000. AEG wandert von Nürnberg nach Polen und hinterlässt 1.750 Mitarbeiter ohne Job. Der Reifenhersteller Conti schließt einen Standort in Hannover, 320 Arbeitsplätze entfallen. Dabei konnte der Konzern schon in den ersten neun Monaten einen Rekordgewinn von 1,2 Milliarden Euro melden.
Neue Meinungskoalitionen bilden sich. Ulrich Greiner in der Zeit ist so entsetzt darüber wie die Bild-Zeitung, dass Firmen Stellen reduzieren, obwohl sie Gewinn machen - nur um ihre exorbitanten Erträge noch weiter zu steigern. Allseits wird "Anstand" bei "den Unternehmern" vermisst. Eine Gegenstrategie gibt es ebenfalls: Auch taz-Leser rufen zu Kundenboykotten gegen die ruchlosen Firmen auf.
Sie meinen es alle gut. Doch ohne auch nur zu stocken, eilen Linke und nicht so linke Empörte in eine neoliberale Falle. Die Enttäuschten regen sich zwar über einige Chefs ohne "Anstand" auf, aber das tun sie nur, weil sie an den guten Unternehmer glauben, der für Gerechtigkeit sorgen soll. Der Staat kommt nicht mehr vor - das ist genau das FDP-Konzept. Der moralische Appell an die Firmenchefs ist eine Entpolitisierung, die hochpolitisch ist. Die Mächtigen profitieren, wenn man sie für allmächtig hält.
Zudem läuft die Empörung ins Leere: Moral kann sich nur gegen Täter richten. Doch wer sind "die Unternehmer"? Sie sind nicht fassbar. Beispiel DaimlerChrysler: Wie die Homepage ausweist, gehörte der Konzern am 31. Juli zu 6,9 Prozent der Deutschen Bank und zu 7,2 Prozent dem Emirat Kuwait. Der Rest war Streubesitz: Privatinvestoren hielten 25 Prozent, institutionelle Investoren 60,9 Prozent. Der Firmenchef ist heute nicht mehr der Besitzer, sondern ein Manager. Was die Linken wie einen Klassenkampf zwischen Arbeitnehmern und Eigentümern inszenieren, ist tatsächlich ein Ringen zwischen abhängig Beschäftigten.
Dieser Kampf ist sinnlos. Auch sonst ist der Gegner verstörend uneindeutig: Der Reichtum ist zwar extrem ungerecht verteilt. Trotzdem gehören die großen Firmen nicht mehr nur anonymen Milliardären, die lässig beim Golf ihre umfangreichen Depots verwalten. Der weltweit größte Aktienfonds ist der Pensionsfonds der öffentlichen Bediensteten in Kalifornien. Darauf hat der Unternehmensberater Roland Berger zu Recht hingewiesen (taz vom 17. 12.). Wenn Josef Ackermann, Chef der Deutschen Bank, Renditen von 25 Prozent anpeilt, dann profitieren auch viele Kleinanleger. Sie sind genauso anspruchsvoll wie Großkunden - auch der normale Angestellte sucht seine Lebensversicherung nach der Ertragstabelle aus.
Widersinnig sind auch die Boykottpläne, mit denen abwandernde Firmen abgestraft werden sollen: Diese "Kauft deutsch"-Kampagne hat etwas Nationalistisches. Vor allem aber wird ignoriert, dass Deutschland 2005 schon wieder absoluter Exportweltmeister ist. Wir führen weit mehr Güter aus, als wir einführen - und verlagern damit Arbeitslosigkeit in andere Länder. Da ist es volkswirtschaftlich nur fair, wenn dieser Effekt zumindest ein wenig korrigiert wird, indem deutsche Firmen gelegentlich Jobs ins Ausland umschichten.
Aber diese Globalsicht dringt nicht durch; viel stärker beeindrucken die Fernsehbilder, die verzweifelte AEG-Mitarbeiter in Nürnberg zeigen. Sie haben ein Recht auf Wut und Trauer, und sie haben ein Recht darauf, von der Gesellschaft mehr zu erhalten als nur Hartz IV. Doch die bittere Ironie ist: Solange die empörten Fernsehzuschauer nur gebannt auf Einzelfirmen starren und Manager anklagen, wird es nie gelingen, den gesellschaftlichen Reichtum gerechter zu verteilen.
Es ist keine harmlose Nostalgie, sich "die Wiederkehr des alten Patriarchen zu ersehnen" (Greiner). Denn der moralische Appell an die Unternehmer wirkt paradox. Er erscheint wie eine ultimative Drohung, doch gleichzeitig formuliert er eine Heilserwartung, die den Kapitalbesitzern grenzenlosen Einfluss zuschreibt. Die Empörten haben vergessen, dass für das Volkswohl nicht die Bosse zuständig sind - sondern die Parlamentarier. Selbst Linke glauben heute, dass Betriebs- und Volkswirtschaft identisch seien. Sie vertrauen derart inniglich auf die Firmenchefs, dass sie vergessen, dass man ruhig die Unternehmensteuern erhöhen könnte. Stattdessen trachten sie danach, die Manager moralisch zu läutern.
Dabei berufen sich die Empörten gerne auf Artikel 14 des Grundgesetzes, der im zweiten Absatz dekretiert, dass "Eigentum verpflichtet". Allerdings macht der erste Absatz klar, dass es ein Missverständnis wäre, zu glauben, dass damit vorrangig der moralische Appell an einzelne Unternehmer gemeint wäre, der von engagierten Bürgern ausgesprochen wird. Oder von der Bild-Zeitung. Stattdessen formuliert der erste Absatz, welche "Schranken" es für das Eigentum gibt - die durch "Gesetze bestimmt" werden. Mit diesem Absatz werden übrigens so unterschiedliche Eigentumsbeschränkungen wie der Umweltschutz, der Arbeitsschutz oder auch die progressive Einkommensteuer begründet. Artikel 14 ermächtigt also den Staat, das Parlament, nicht selbst ernannte Moralisten. Warum können selbst Linke damit nichts mehr anfangen, obwohl dies urlinkes Gedankengut ist?
Vielleicht lässt sich diese merkwürdige öffentliche Empörung damit erklären, dass die Fronten so unübersichtlich sind. Die Bürger kommen mit ihren vielfältigen Rollen nicht mehr zurecht. Als Kunde profitieren sie vom gnadenlosen Wettbewerb; als Anleger freuen sie sich über Kurssprünge und hohe Dividenden. Doch als Angestellte sind sie Opfer dieser Trends - ihre Löhne stagnieren, ihre Jobs könnten eingespart werden.
Diese Zerrissenheit wird noch zunehmen. Auch durch politische Maßnahmen, die von fast allen gewünscht sind. So würden 85 Prozent aller Bundesbürger ihre Rente am liebsten weitgehend privat ansparen. Wieder sagt der Instinkt: Bloß keine Lösungen vom Staat erwarten, etwa eine steuerfinanzierte Altersvorsorge. Doch die Privatisierung würde die Pensionsfonds weiter aufblähen, die schon jetzt den rabiaten Renditekurs der Aktiengesellschaften bestimmen - siehe DaimlerChrysler.
Dieser unreflektierte Instinkt lässt sich politisch bestens ausnutzen. In den Vereinigten Staaten will Präsident Bush die Renten ebenfalls privatisieren. Sein Chefberater Grover Norquist fühlt sich so sicher, dass er die Motive sogar öffentlich erläutert: "Wenn wir mehr Leute zu Investoren machen, dann schaffen wir mehr Republikaner und weniger Demokraten." Denn Kleinanleger reagieren wie Großaktionäre: Sie werden konservativ. Wer also nicht als staatsferner Neoliberaler enden will, sollte etwas selbstkritischer sein. Es ist absurd, gegen den mangelnden Anstand von Unternehmern zu wettern - wenn es doch wahrscheinlich ist, dass der Kritiker indirekt selbst dieser Unternehmer ist.
ULRIKE HERRMANN
taz Nr. 7850 vom 20.12.2005, Seite 12, 241 Zeilen (Kommentar), ULRIKE HERRMANN

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Soviel zu den hochfliegenden Plänen die Mitarbeiter an den Unternehmensgewinnen beteiligen zu wollen.

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Vielleicht auch mal Thema für eine launige Boo-Company-Kolumne

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Einen Deppenausweis für die TAZ
denn sie ist entweder zu doof oder zu einseitig folgende kleine Facts zu nennen:

ca. 70 % aller Jobs in D sind im Mittelstand (= Unternehmen von 1 - 500 MA, bis zu 50 Mio € Umsatz p.a.), sowie ca. 80 % aller Lehrstellen.

Das Problem sind nicht die hochbejammerten halbstaatlichen Unternehmen a la Siemens oder EON oder VW und ob sie mal 1000 Leute freisetzten. Das Problem ist der Mittelstand der ungetröstet vor sich hin verreckt.

"Die Unternehmer" bei der TAZ, das ist die eine Hälfte der arbeitszuteilenden halbstaatsinszenierung, die da "Unternehmerverbände" (= Großunternehmen) heisst, und deren andere sich "Gewerkschaften" nennt.

Und übrigens: bejammert der TAZ-Redakteur gleichermaßen dass der gute Deutsche seine P*ma-Treter aus Fernost-Produktion für horrendes Geld einkauft, die "Wert"schöpfung zu Lasten deutscher Arbeitsplätze in vorhöllenartigen Verhältnissen in Fernost stattfindet ? Und der P*ma-Kurs nicht wächst, sondern wuchert ?

Nö, oder ?

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@che, da ich mit der NE-Blase nix zu tun hatte, wäre ich doch mal an einer Erklärung des Begriffs "Boo" interessiert.

@lebemann, vielleicht schlaf ich ja noch, aber ich kapiere nicht worauf du dich beziehst. Ich verstehe den Artikel so, dass es fatal ist, sich mit moralischen Appellen an Unternehmer zu wenden und dabei die Politik aus den Augen zu verlieren. Dem stimme ich zu, Politik macht sich momentan zum Handlanger marktradikaler Strömungen, statt ein Korrektiv zu bilden.

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Im Grunde habt Ihr beide Recht. Die Stoßrichtung des Beitrags, wie somlu sie sieht, ist aus meiner Sicht richtig und dem Gegenstand angemessen. Auf der anderen Seite ist die Situation der KMUs so, wie von Lebemann geschildert, der Mittelstand kommt in der politischen Publizistik eigentlich nur in Sonntagsreden und der Verbandspresse vor, und ich möchte den Deppenausweis gerne an Manager-Magazin, Wirtschaftswoche, Brand 1 etc. pp. weiterreichen.

@BOO: Ursprünglich der Name eines NE-Unternehmens in den USA, das sehr früh sehr spektakulär kollabierte. Durch die Analogie zu Buh-Rufen wurde der Begriff Boo, auch Nickname eines der allerersten Autoren bei Dotcomtod, zum Synonym für negative Wirtschaftsmeldungen und bei Dotcomtod/Boocompany eine eigene Kategorie von Meldung. Ein Boo ist dort eine durch Tatsachenmaterial erhärtete, mit einem Link hinterlegte negative Unternehmensmeldung in Abgrenzung zu einer noch nicht veröffentlichten Information aus dem Unternehmen selber oder gut informierten Kreisen (Insider) einerseits und einer Insolvenzmeldung (Final) andererseits.

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Dass der Mittelstand nicht vorkommt, dem schließe ich mich an. Ich habe nur den Artikel nicht in dieser Richtung interpretiert. (Hach, ist das schön, diese Harmonie ;-)

@che, danke für die Erklärung

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@ somlu

mir ging es nur darum zu hinterfragen warum die TAZ mit den Wölfen hault, anstatt tatsächlich ein echtes journalistisches Korrektiv anzubieten.

Ein Korrektiv wäre es zu sagen:

"Hey, ihr Blödmänner in Politik und Journallie, nicht das Arbeitszuteilungskartell kann iregndeine Lösung sein, kümmert euch mal um die, die die Arbeitsplätze tatsächlich schaffen, und dafür meist mit ihrer Existenz bei den Banken etc haften müssen - "Die Unternehmer" als zentralistischer Parteienverband existieren nämlich nicht, macht mal Eure Arbeit und kümmert euch um die Basis der Gesellschaft, die KMUs, auch wenn es dafür keine tollen PKs gibt"

Und im übrigen - Mitarbeiterbeteiligung an guten KMUs wäre keine ganz schlechte Sache - egal wo und wie deren Gewinne stattfänden es flösse sichereres Geld als aus der Rentenkasse. Aber die Diskussion gab es doch schon einmal in den 50ern oder 60gern.

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@lebemann,grundsätzlich stimme ich dir zu, sehe ich ähnlich, die Fixierung auf die Konzerne geht mir auch auf den Geist. Aber das wäre sozusagen eine weitere Forderung an Medien und Journallie.

Beteiligung von MAs an Unternehmensgewinnen nun ja, hängt davon ab, wie es umgesetzt wird. Wenn meine Vorstellungen da umgesetzt würden, könnte man schon fast von Kommunismus reden, aber so wie es vermutlich umgesetzt würde, stiege die Abhängigkeit der MAs von ihrem Unternehmen und der Erreichung betriebswirtschaftlicher Ziele und die Mitbestimmungsmöglichkeiten wären eingeschränkt.

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Manueller Trackback:

Billiglohnland

Ich würde ja gerne schreiben, dass die Einführung der Ein-Euro-Jobs undurchdachte Dummheit war, aber ich befürchte, dass dahinter Kalkül stand...Somlus Welt

Nachtrag, möglichweise trudelt hier noch ein Trackback von mir ein, ist ein Test, ich hoffe, das geht okay.

Nachtrag II: @che, hat das wirklich geklappt? Apropos, ich habe den obigen Link geändert, er führt jetzt zu meinem neuen Blog.

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@lebemann und somlu, danke für diese sehr interessanten Überlegungen.

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...mal ganz davon abgesehen: Manager sind keine "Unternehmer". Sie sind: Angestellte. Vielleicht ist genau das das Problem mit dieser Ecke der Wirtschaft (Nein, nicht "der Patriarch", auch den braucht kein Mensch mehr - nur: Ein Ackermann ist kein "Chef". Vielleicht sollten sich das sowohl ein paar Ackermänner als auch andere, die mit diesen umgehen (müssen) klarmachen...)

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Der "Chef" ist in diesem Fall die Aktionärshauptversammlung, die aber eigentlich nicht herrscht, bzw. sehr selten, ebenso wie ja auch kein demokratischer Staat durch die Bevölkerung selber regiert wird. Der Aufsichtsrat dürfte sehr viel einflußreicher sein, insofern ähnelt das eher einer konstitutionellen Monarchie mit mehreren Königen.

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mit der gewinnbeteiligung der arbeitnehmer habe ich ein kleines problem.
ich habe genug abschlüsse von kmu gemacht, um zu wissen, was man machen kann, um die bilanz entweder für die bank oder fürs finanzamt zu machen.
gewinn ist das, was unterm strich ausgewiesen werden soll. geld auf die hand ist durch nichts zu ersetzen.

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Modell Jugoslawien
Der jugoslawische Selbstverwaltungssozialismus beinhaltete eine genossenschaftsähnliche Beteiligung der Werktätigen - mit dem Resultat, dass die sich oftmals die Dividenden selber auszahlten und damit dem eigenen Betrieb die Rücklagen bzw. benötigtes Investivkapital entzogen. Also keine Lösung. Was es gibt, sind Mittelstandsfonds. Diese haben die Funktion, mittelständischen Unternehmen zusätzliches Kapital zufließen zu lassen und gleichzeitig, Mittelständlern zur Risikominimierung Anteile an möglichst vielen anderen Unternehmen zu zeichnen. So etwas ist vielleicht vielversprechend. Nebenbei-wenn man nicht gerade Julius Zinsgraf von Riesling-Hochgelas bei Kasse heißt - so sind quasi alle Winzer in Genossenschaften organisiert, das ist dort jedenfalls ein sehr vorteilhaftes Modell.

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