Montag, 24. September 2012
Wahnsinn und Verstand X
Gekraakt und zugenäht

Die folgende Woche verläuft ruhiger als erwartet. Die Hausbesitzerin sagt überhaupt nichts zu der Angelegenheit, sondern fährt erstmal auf Urlaub in die Schweiz. Von den Bullen ist, bis auf die üblichen Zivis, nichts zu sehen oder zu hören, und Britt, Alfie und Heike entwickeln einen Sport daraus, sie regelmäßig zu foppen. Deren Devise scheint zu lauten: "Nicht provozieren lassen!" Sie reagieren so gut wie gar nicht.
Die Hausgemeinschaft beginnt sich einzuleben. Zwischen Elke und Azad entwickelt sich ein unverfängliches Techtel. Elke hat Probleme, ihr Wohnen in dem Haus und ihren Job zu koordinieren und bleibt von Renovierungsarbeiten, Wacheschieben und Streife fahren ausgenommen. Herbert und Dorit nerven öfter mal rum, bis Heike ein Machtwort spricht. Der extreme Alkoholkonsum von Herbert, der so wenig zu seinem rigiden Moralismus zu passen scheint, stimmt so Einige bedenklich. Ernsthafte Konflikte bleiben aus. Für einiges Hallo sorgt die Tatsache, daß der Baron, also Bernie, in dem von Alfie bewohnten Zimmer eine Klimaanlage installiert. Alfie hatte, wenn auch völlig verwundert über Bernies Vorschlag, eine Aircondition Marke Eigenbau zu installieren, schließlich zugestimmt. Bernie ist zwei Tage am basteln. Erst bricht er mit Hammer und Stemmeisen ein paar Backsteine aus der Außenwand, dann setzt er einen Ventilator ein. Schließlich ist die Konstruktion fertig und wird der interessierten Hausgemeinschaft feierlich vorgeführt. Alles, was zu sehen ist, ist ein mit Spanplatten verstärkter Umzugskarton unter dem Zimmerfenster. In ihn sind Luftschlitze geschnitten, und daneben befindet sich ein archaischer Elektromotor. Bernie startet ihn. Ein Klappern ist zu vernehmen, der Ventilator in der Wand kommt in Schwung, dann fängt der Karton an zu zittern und zu wackeln, ein laues Lüftchen strömt durch die Schlitze ein. "Na, wie findet ihr das?" fragt Bernie begeistert und voll offensichtlichem Stolz. "Na ja, es rappelt im Karton." kommentiert Alfie, der offensichtlich bemüht ist, nicht laut zu lachen. Die Gesichtsausdrücke der übrigen Anwesenden schwanken zwischen völligem Unverständnis, Belustigung und offener Ablehnung. Bernie bekommt die Reaktionen gar nicht mit. "Und man muß den Motor nur umpolen" - er vertauscht tatsächlich die Polstecker - "und der Ventilator läuft rückwärts!" Tatsächlich fängt er nun an, Luft aus dem Zimmer abzusaugen und nach draußen zu blasen. "Bernie, eine Frage." meint Alfie mit breitem Grinsen. "Normalerweise hat eine Klimaanlage ein Kühl- und Heizaggregat und einen Thermostaten. Hast du das vergessen?" "Nein, das ist gar nicht nötig." entgegnet Bernward. "Einen Ofen hat das Zimmer ja, und für Kühlung wird durch Frischluftzufuhr oder Luftabsaugung gesorgt." "Sehr schön, nur: Der Ventilator befindet sich unter dem Fenster. Ich kann auch schlicht und einfach lüften." Es hilft nichts, Bernward muß die Anlage demontieren. Das Zumauern übernehmen Britt und Alfie.

Den ersten Ärger gibt es erst zehn Tage nach der Besetzung. Gegen zwei Uhr nachts wird Alfie von lautem Gegröhle aus dem Schlaf geschreckt. "Deutsche, macht euch frei - haut die Zecken zu Brei!" hallt es durch die Nacht. "Zündet sie an!" Aufgesprungen, angezogen, die Anderen geweckt, so sie nicht schon auf den Beinen sind. Alfie, Henning, Kalle, Heike und Azad schnappen sich ihre Stöcke und Tonfas und stürmen zum Hauseingang, Britt und Rock kommen mit, ohne sichtbar was dabei zu haben.
Vor dem Haus stehen vielleicht dreißig Skins. Die meisten sind mit Baseballschlägern ausgerüstet, ein paar halten brennende Fackeln in den Händen. Scheiße! Es gibt kein Telefon, um eine Kette auszulösen. Sie sind auf sich allein gestellt.
Zuerst versuchen sie, die Haustür zu verrammeln, doch der Anprall der Faschos, die sich mit gleich zehn Leuten dagegen werfen, macht das zunichte. Gerade noch können sie vor den nach innen schwingenden Türflügeln zurückspringen, dann stehen sie im weiträumigen Treppenhausflur den Angreifern gegenüber.
Alfie wird als erster attackiert. Ein Bär von Typ geht mit nem Baseballschläger auf ihn los, Alfie duckt sich, der Schlag geht über ihn weg, ohne zu treffen, dann stößt er mit seinem Tonfa zu, direkt in den Magen des Skins. Der stürzt zu Boden, Alfie, von plötzlichem Kampfrausch gepackt, haut den nächsten weg. Gleichzeitig gehen Heike und Kalle mit ihren Prügeln auf die Faschos los. Solchen Widerstand haben sie nicht erwartet. Blitzartig sind sie draußen, die Leute aus dem Haus hinterher.
Da stehen sich vor dem Haus sieben gegen etwa dreißig Leute gegenüber, während die Menschen im Haus - Herbert, Dorit, Elke und Sabine, die jetzige Freundin von Herbert und frühere von Alfie - die Szenerie ängstlich aus einem Fenster im ersten Stock beobachten und Polizeikommissar Bley und Polizeihauptmeister Schmantzkowsky sich Selbige aus ihrem etwa fünfzig Meter weit entfernten Dienstwagen ansehen. Dieser ist vom Haus aus nicht wahrzunehmen.
Die Faschos sind etwas unschlüssig. Sie hatten wohl erwartet, das Haus relativ einfach stürmen und die BewohnerInnen niederknüppeln zu können.
Und jetzt sehen sie sich einer Schar von Leuten gegenüber, die sich nicht nur zur Wehr zu setzen versteht, sondern augenscheinlich auch Ahnung von asiatischen Kampfsportarten hat.
Britt fängt an, die Faschos anzupöbeln. "Ihr erbärmlichen Wichser!" ruft sie. "Ihr glaubt wohl, uns beeindrucken zu können! Toll, wenn die Scheiße im Schädel umherschwappt! Ihr seid schlau wie Kruppstahl, flink wie Leder und zäh wie Flitzkacke!"
Britt ist ziemlich weit vorne. So, wie sie dasteht, eine auffallend schöne Frau in schwarzer Lederkluft, wild fluchend, ist sie das erste Angriffsziel für die Skinheads. "Die Ische fick ich!" brüllt einer von ihnen und geht auf sie los. Er blickt in den Lauf eines großkalibrigen Revolvers. "Du motherfucker, ich puste dich ins Jenseits!" meint sie in einem Tonfall, der keine Zweideutigkeiten zuläßt. Sie hebt die Waffe, richtet sie auf die gegenüberliegemde Straßenlaterne und drückt ab. Ein Knall wie von einer Kanone. Der Rückstoß schlägt ihr das Ding fast in die Fresse. Die Lampe ist weg.
"Wer von euch will als erster sein Gehirn vom Pflaster kratzen?" fragt Britt wild, bevor die Fascho-Skins in Panik verschwinden.

Puh, das kommt heavy! Alfie hatte nach dem Erlebnis mit Valentin nicht gedacht, noch einmal Vergleichbares zu erleben. Und jetzt das! Alle blicken wortlos und entsetzt auf Britt.
Heike ist es, die als Erste die Sprache wiederfindet. "Alte, wo hast du denn ne scharfe Knarre her?" will sie wissen. "Connections!" erwidert Britt kurz angebunden. "Wollte sie eigentlich gar nicht aus Hamburg mitnehmen, aber im letzten Augenblick hatte ich eine Eingebung, die mir riet, es zu tun." "Gehen wir schleunigst rein!" mischt Azad sich ein. "Wir wissen nicht, ob hier Zivis sind, und was mit den umgehauenen Skins im Eingang ist."
Die Skins haben sich aufgerappelt und verpißt, und auch sonst bleibt alles ruhig. Sabine und Herbert fahren mit Alfies Wagen in die Stadt, um den antifaschistischen Notruf zu verständigen. Dies vom Telefon in Alfies WG zu tun, erscheint zu riskant. Britt verbuddelt ihre Knarre sicherheitshalber im Garten.
Der Rest der Nacht verläuft friedlich, aber verständlicherweise bekommt niemand ein Auge zu. Am
nächsten Vormittag, beim gemeinsamen Frühstück, platzt dann die Bombe,
Mit geheimnisvollem Gesicht tuschelt Herbert Alfie und Heike zu, er müsse sie mal unter sechs Augen sprechen. Sie gehen in einen Nebenraum. "Also, um es kurz zu machen," eröffnet Herbert, wir haben einen Spitzel in unseren Reihen." "Wie bitte?" entfährt es Alfie. "Weißt du, was du da sagst?!" "Ja, ich weiß es genau." antwortet Herbert betont. Er weiß, daß er in Alfies und Heikes Achtung nicht allzu hoch angesiedelt ist. "Es wurde ein Funkspruch von den Bullen abgehört. Die Hauerei wurde von einem Ziviwagen beobachtet, und die fragten im Präsidium nach, ob Einsatzkräfte angefordert werden sollten. Die Antwort war nein, das wäre nicht nötig, schließlich sei ja eine Kontaktperson im Haus." "Scheiße!" faucht Heike. "Da haben wir den Schlamassel. Das war alles?" "Ja!" "Na toll, dann können wir jetzt `who done it' raten. Was tun?" "Ich glaube," sagt Alfie, "das Beste ist, wir lassen das erstmal sacken, machen uns unsere Gedanken dazu, sagen niemandem was und treffen uns heute abend nochmal."
Es ist nicht so ganz einfach, sich abends zu einem Spaziergang loszueisen, aber nach dem Essen gelingt es den Dreien.
"Also, zu was für Überlegungen seid ihr gekommen?" will Alfie wissen. "Wir drei scheiden ja wohl aus." entgegnet Herbert. "Sabine und Dorit auch und Azad auch. Wie genau kennt ihr den Rest?" "Für meine WG lege ich die Hand ins Feuer." meint Alfie. "Britt, Elke und Rock kennen wir eigentlich nicht richtig. Was sagt euch euer Gefühl?" "Wieso kennst du Britt nicht?" erkundigt sich Herbert erstaunt. "Das ist doch die Freundin von Henning!" "Aber erst seit ein paar Wochen." antwortet Alfie. "Davor habe ich sie auf einem Treffen in Hamburg kennengelernt, sie war dann sehr anhänglich und wollte unbedingt mit zu mir nach Hause. Und Henning hat sehr seltsame Sachen von ihr berichtet. Sie verkehrt in der Kleinkriminellenszene und hat ziemlich viel Geld, das jedenfalls nicht von ihrem Job stammt. Das heißt aber nicht, daß die Anderen koscherer sind. Elke ist ne Normalofrau, die nie Szenekontakte gehabt hat und sich plötzlich in den Kopf setzt, bei ner Hausbesetzung mitzumischen. Und Rock ist ein Typ von Nirgendwo, den ich als Tramper mitgenommen habe und sich sehr aufdringlich verhalten hat."
"Also, wenn mich meine Menschenkenntnis nicht völlig im Stich läßt, " meldet sich Heike zu Wort, Britt und Elke - nee! Rock kann ich mir als Spitzel vorstellen." "Ja, schnallt ihrs denn noch?" entrüstet sich Herbert. "Da ist ne Frau, die redet wie niemand aus der Szene, spielt sich ständig in den Vordergrund, wie toll wild und radikal sie doch ist, gräbt nen Szenetypen an und ballert in einer Kurzschlußreaktion mit ner scharfen Knarre rum. Wahrscheinlich ihre Dienstwaffe!" "Moment!" unterbricht Alfie den Redefluß. "Bullen haben normalerweise keine schweren Trommelrevolver. Sie ist aus Hamburg, das ist ein heißes Pflaster. Vor kurzem habe ich in Frankfurt eine ganz ähnliche Situation mit Faschos erlebt, wo ein Genosse von mir zur Schrotflinte gegriffen hat. Wir sind hier halt Provinz." "Und was lernt uns das?" fragt Heike, sichtbar genervt. "Nichts." meint Alfie sachlich. "Wir können nichts weiter tun, als abwarten, Maul und die Augen offen halten." "Das ist doch nicht dein Ernst!" ruft Herbert empört. "Und in der Zwischenzeit werden wir von nem eingeschleusten Bullenschwein verladen!" "Was ist die Alternative?" fragt Heike zurück. "Willst du nen Zivi-Schauprozeß veranstalten, dem am Ende eine völlig unschuldige Person zum Opfer fällt? Ich halte es sogar für möglich, daß es gar keinen Spitzel gibt. Daß die Bullen über einen Kanal, den jeder Taxifahrer und jeder Rettungssanitäter mithören kann, ohne Code, solch brisante Dienstgeheimnisse ausplaudern, finde ich schon höchst seltsam. Und sie wissen, daß unsere Leute ihren Funk abhören. Vielleicht sollen wir glauben, daß es einen Spitzel gibt, um Verunsicherung zu stiften?" "Das ist nicht dein Ernst!" wütet Herbert. "Die ganze Zeit interessiert sich niemand für diese Hausbesetzung, sie lassen uns frei schalten und walten - klar - weil sie wen eingeschleust haben! Und da zweifelt ihr noch?" "Vor dem Funkspruch ist dir das aber nicht aufgefallen." antwortet Heike. "Und wenn sie es schaffen, daß wir uns gegenseitig fertigmachen, haben sie auch gar keinen Spitzel nötig. Es hilft nichts, wir stecken nicht drin. Alles ist gleich wahrscheinlich, solange wir nichts Neues erfahren. Also sollten wir abwarten und uns von Zeit zu Zeit austauschen."
"Aber sie wissen schon eine Menge über uns. Das kann uns alle teuer zu stehen kommen." meint Herbert hasenfüßig. "Natürlich wollen sie gerne Bewegungsbilder der Szene haben und interessieren sich prinzipiell für alles." erwidert Alfie. "Aber außer Hausfriedensbruch und vielleicht Sachbeschädigung können die uns gar nichts anhängen - außer Britt ihre Knarre." "Es gibt hier genug Leute, die kiffen!" wendet Herbert ein. "Ich bitte dich! Das bißchen Kifferei interessiert doch heute niemanden mehr. Ob die wissen, wer hier kifft oder in der Inneren Mongolei fällt ein Eimer Joghurt um..."
In der Folgezeit passiert nichts Aufsehenerregendes.
Die üblichen Szene-Besuche im Haus lassen nach, nach Feten ist die Stimmung nicht, und alle sind etwas gedämpfter Laune- außer der stets lustigen und quirligen Britt, was Herberts Verdacht gegen sie bestärkt. Kunze-Schröder, obwohl aus dem Urlaub zurück, hat sich noch immer nicht gemeldet und verweigert auch der Presse gegenüber jede Auskunft.
Ärger gibt es dann mit Junkies und Berbern, die sich immer häufiger im Haus aufhalten und rumsstressen. So richtig verbieten will ihnen den Aufenthalt niemand, bis Britt und Alfie einen Drogi handgreiflich rausschmeißen und den Anderen gegenüber klarmachen, daß ihrer Meinung nach solche Leute im Haus nichts verloren hätten. Das wird mehrheitlich akzeptiert, bringt ihnen aber von Dorit den Vorwurf ein, menschenverachtend zu sein.
Drei Wochen nach der Besetzung ziehen dann Elke und Herbert aus. Elke begründet es offen damit, daß ihr alles zu heiß wird. Bevor sie eine neue Wohnung hat, kann sie in Azads WG knacken. Für Herbert ist es schon lange viel zu gefährlich, aber das erzählt er natürlich nicht. Er schiebt Studiengründe vor - ausgerechnet der alte Hänger!
Wenige Tage darauf stellen sich drei neue Leute vor, die einziehen wollen. Ibrahim, ein Freund von Azad, dessen Freundin Ines und Curt, ein alter Kommilitone von Alfie, der sich seit etwa zwei Jahren aus allen Politaktivitäten zurückgezogen hat, nun aber wieder etwas machen will.
Sie sind hochwillkommen und bringen in den nächsten Tagen Schwung in die Bude. Ibrahim und Ines mit ihren hervorragenden Couscousgerichten und Curt mit seinen witzigen Storys und seinem erstklassigen Sozialverhalten.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Der Park
Einfach immer wieder schön:










... link (0 Kommentare)   ... comment


The Voice on Air
Zum Marsch der Flüchtlinge auf Berlin aktuelles Material. Break Isolation!

http://reboot.fm/2012/09/21/the-voice-6/

... link (0 Kommentare)   ... comment