Mittwoch, 22. August 2012
Vor 20 Jahren - Pogrom in Lichtenhagen
che2001, 15:23h
Markus Mohr
Vier Tage im August
Vor 20 Jahren kam es in Rostock Lichtenhagen zum Pogrom
«Was mich als Innenpolitiker belastet, ist, dass Vorgänge eingetreten sind, die in der Geschichte der Bundesrepublik wirklich
ihresgleichen suchen.»
Der ehemalige Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen und FDP-Bundestagsabgeordnete Burkhard Hirsch am 31. August 1992 im Bundestagsinnenausschuss
Am Mittwoch, den 19. August 1992 vermeldete ein Bericht der Rostocker Lokalzeitung Norddeutsche Neueste Nachrichten
die Ankündigung einer «Bürgerwehr» im Stadtteil Lichtenhagen, dass man die dortige Zentrale Aufnahmestelle für
Flüchtlinge (ZASt) «aufräumen» wolle. Ein anonymer Anrufer teilte unmissverständlich mit: «Wenn die Stadt nicht bis Ende
der Woche in Lichtenhagen für Ordnung sorgt, dann machen wir das. Und zwar auf unsere Weise.» Die andere Lokalzeitung
der Stadt, die Ostseezeitung, rapportierte zwei Tage später die Ankündigung mehrerer Bewohner des Stadtviertels,
dass die «rumänischen Roma ‹aufgeklatscht› werden sollen: «‹Wir werden dabei sein›, sagt Thomas, ‹und du wirst sehen,
die Leute, die hier wohnen, werden aus den Fenstern schauen und Beifall klatschen›.» Diese in aller Öffentlichkeit ausgestoßenen
düsteren Prophezeiungen sollten in den darauf folgenden Tagen für eine Vielzahl von Flüchtlingen und vietnamesischen
ArbeitsmigrantInnen zur grausamen Wahrheit werden. Die Choreografie dieses für die Geschichte der Bundesrepublik
unfassbaren Pogroms ist vielfach beschrieben worden. Mit diesem Text soll es darum gehen, wesentlich auf die
nazistische Qualität dieses Ereignisses abzustellen.
In den Abendstunden des 24. August des Jahres 1992 versammelten
sich in Rostock-Lichtenhagen wenigstens 3.000
Menschen. Sie bildeten nicht einfach nur eine Menge, sondern
sie verwandelten sich in einen Mob und waren dazu
bereit, mehr als 100 BewohnerInnen des «Sonnenblumenhauses
» – ein Plattenbau, der wegen eines großflächigen
Ziermosaiks
an einer Seitenwand so genannt wird – unter
Absingen und Schreien von Parolen wie «Deutschland, den
Deutschen, Ausländer raus!», «Sieg Heil!» oder «Wir kriegen
euch alle!» durch Brandschatzen in Lebensgefahr zu bringen.
Parallel dazu waren Imbisse geöffnet. Es konnten gegrillte
Würstchen käuflich erworben werden. Die internationalen
Medien waren vor Ort. Die Weltöffentlichkeit sah zu. Die keineswegs überraschten, gleichwohl personell nur schwach vertretenen Polizeikräfte vor Ort, erhielten noch im Verlauf der Auseinandersetzungen den Befehl, den Schutz des Wohnhauses
in der Mecklenburger Straße 18 einfach einzustellen
und abzuziehen. Die in ihrem Leben bedrohten BewohnerInnen dieses Hauses wurden für mehrere Stunden dem brandschatzenden Mob überlassen, der Notruf der lokalen Polizei war für sie nicht mehr erreichbar. Die nicht von der Polizei verständigte
Feuerwehr wurde über Stunden von der zu allem bereiten
Menge am Löschen gehindert. Sowohl der amtierende
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Motivlagen und die umsichtige Abwehr individueller Verantwortung
sich mit den Mechanismen einer arbeitsteilig organisierten
staatlichen Verwaltung verschränken: Da gab es ein
lange währendes berechnend tätiges Unterlassen staatlicher
Behörden in der Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen.
Sie wurden systematisch Bedingungen unterworfen, die darauf
zielten, dass sie nicht mehr als Menschen wahrgenommen
werden. Gegen sie richtete sich ein unterschwelliger,
aber auch ausdrücklich öffentlich bekundeter und propagierter
Rassismus durch Teile der lokalen Bevölkerung und
der lokalen Presse. In diesem Zusammenhang wurde konsequent
das Engagement organisierter NeofaschistInnen einkalkuliert.
Am Ende zielte eine kalt kalkulierte Verschwörung
aus dem Zentrum der bundesdeutschen Innenpolitik darauf
ab, die noch vor Ort eingesetzten schwachen Polizeikräfte in
die Handlungsunfähigkeit zu manövrieren. All das trug zur
Entfesselung einer Situation bei, die für einen historischen
Moment in diesem Land erneut das Tor zur Hölle aufstieß.
Über den Verlauf des Pogroms und seine politische Vorgeschichte
ist bereits vieles in den sehr verdienstvollen Abhandlungen
von Diederichs (1993), Funke (1993), Schmidt
(2002) und Prenzel (2012), partiell auch aus einigen aus dem
Untersuchungsausschuss des Landtages von Mecklenburg-
Vorpommern im Verlaufe des Jahres 1993 hervorgegangenen
Drucksachen gesagt und beschrieben worden: Von heute
aus gesehen ist es unstrittig, dass Flüchtlingen vonseiten
des Innenministeriums in Schwerin und der Stadt Rostock
bei der Versorgung und weiteren administrativen Behandlung
in der Zentralen Aufnahmestelle für Flüchtlinge (ZASt)
elementare Hilfestellungen vorenthalten wurden – eine politische
Praxis der gezielten Obstruktion, die im Nachhinein
mit der allfälligen Vokabel des «Versagens» bemäntelt
wurde. Die zunächst von neofaschistischen Gruppen in der
West-Bundesrepublik Anfang der 1980er Jahre angestoßene
Kampagne zur Beseitigung des Asylrechts aus dem
Grundgesetz war nach der Eingliederung der DDR in die
Bundesrepublik von CDU/CSU aufgegriffen und kampagnenartig
verallgemeinert worden. Desaströse Lebensbedingungen
für Flüchtlinge lagen in ihrem politischen Kalkül.
Dass der katastrophale Polizeieinsatz in den Abendstunden
offenkundig so «gewollt» gewesen sei, hatte sich nach
einem zeitgenössischen Pressebericht sogar bis in die Reihen
der Polizei selbst herumgesprochen: «Die Polizisten erzählen,
dass die meisten der Kollegen der Ansicht seien, der
verkorkste Einsatz sei aus irgendwelchen Gründen gewollt
gewesen. ‹Warum›, spekuliert einer, ‹weiß keiner so recht.
Vielleicht sollte es einfach die große Katastrophe geben.› Einer
sagt, wie sehr er sich gewundert habe, ‹als wir plötzlich
von dem Heim weggezogen wurden›. Ein anderer meint,
schon den ganzen Tag seien so ‹merkwürdige Dinge› über
Funk gelaufen, die keiner verstanden habe. Ein dritter, der
in einer Hundertschaft nahe des Schauplatzes postiert war,
weiß noch, wie alle den Kopf geschüttelt haben, als sie das
brennende Haus gesehen haben, ‹aber nicht los durften. Das
darf doch nicht wahr sein.› Es ist anscheinend so, dass sich
viele Polizisten in Rostock verraten und missbraucht fühlen»
(Lebert 1992). Doch diese Ahnungen der PolizeibeamtInnen
beantworten nicht die Frage nach der spezifischen politischen
Qualität dessen, was sich dort abspielte.
An dem Verlauf und der Choreografie des Pogroms von
Rostock ist vieles bemerkenswert, zentral muss aber für
heute die Einsicht sein, dass hier in der politischen Wirklichkeit
der Bundesrepublik der historische Nationalsozialismus
durchschimmerte. Konkret: Bei fortexistierender Verfassung
flankierte der Staatsapparat terroristisches Handeln einzelner
Gruppen, deren Gewalt sich an keiner humanen Zielsetzung
mehr zu legitimieren braucht und ausschließlich dazu dient,
Furcht, Angst und Schrecken zu verbreiten, um so am Ende
den «starken Mann» herbeirufen zu können. Das erscheint zunächst
banal. Das ist es aber dann nicht, wenn man bedenkt,
dass in der Bundesrepublik über die Gegenwärtigkeit des Nationalsozialismus
in einem politischen Sinne nur in dem distanzierend
erscheinenden Begriff des Rechtsextremismus
gesprochen werden soll. Und es gehört zur Staatsräson der
Bundesrepublik, dass eben dieser Rechtsextremismus stets
an jenem gesellschaftlichen Rand agiert, auf den dann alle
angewidert mit dem Finger zeigen können. In Rostock stand
der aber im Zentrum des Geschehens und verwandelte sich
in das, was er immer schon war: in den Nationalsozialismus.
Und die etablierten konservativen Kräfte des Staates haben
an diesem Punkt mit ihm praktisch wie ideell für einen kurzen
Moment erneut so etwas wie einen «Pakt» geschlossen, mit
dem Ziel, das in der Verfassung prominent verankerte Grundrecht
auf Asyl zu kippen (vgl. Siegler u.a 1993).
Für die vier Tage Ende August 1992 vor der ZASt und dem
Wohnheim für die vietnamesischen VertragsarbeiterInnen
gibt es ein Bild, das den applaudierenden Mob gespenstisch
versinnbildlicht: Es zeigt den damals 38 Jahre alten arbeitslosen
Baumaschinisten Harald Ewert aus dem benachbarten
Rostock-Reutershagen. Nachdem er vom Pogrom im
Radio gehört hatte, war er dort hingeeilt und hatte es sich
über Stunden als neugieriger Zuschauer angesehen. Das
Foto zeigt ihn in den Abendstunden des 24. A ugust 1992
in der Menge des gaffenden Publikums, bekleidet mit dem
schwarz-rot-goldenen Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft.
In seiner weißen Jogginghose ist im Schritt ein
großer feuchter Fleck zu erkennen, und er hebt mit trunkenglasigen
Augen den rechten Arm zum sogenannten Hitlergruß.
Eine trostlose Figur zweifellos, sicher auch lächerlich,
aber deswegen etwa nicht ernst zu nehmen? Erschien denn
nicht auch dem kundigen Theodor W. Adorno in der ersten
Hälfte der 1930er Jahre ein Herr namens Hitler nicht einmal
als eine «Verbindung von King Kong und Vorstadtfriseur
»?
Und mit dieser Formulierung trieb ihn alles andere als die Absicht
um, diesen als eine nichtige, geradezu harmlose Comicfigur
zu verniedlichen. In einem Interview mit der Zeitschrift
Stern brachte Ewert für den Urinfleck die Ausrede vor,
dass ihm auf der Autofahrt eine zwischen den Beinen eingeklemmte
Büchse Bier ausgelaufen sei. Interessanter ist
jedoch seine Begründung für den «Hitlergruß»: «Das ging
ganz automatisch», sagte er, aber selbstverständlich sei er
«kein Nazi» (Schmitz u.a. 1993,; Hampel 2002). Ohne es zu
wissen, fokussiert der zeit seines Lebens niemals im organisierten
Neofaschismus hervorgetretene Nicht-Intellektuelle
Ewert mit dieser Aussage einen bedeutenden Aspekt in
der deutschen Geschichte. Und über den hatte auch schon
kein Geringerer als Sebastian Haffner nachgedacht. Der konservative
Preuße Haffner kann als einer der bedeutendsten
PublizistInnen
in der Geschichte der Bundesrepublik angesehen
werden. In seinen Ende der 1930er Jahre niedergeschriebenen,
aber erst lange nach seinem Tod im Jahre
2000 publizierten Jugenderinnerungen unter dem Titel «Geschichte
eines Deutschen» beschrieb er die sich im Verlaufe
des Jahres 1933 rasant vollziehende Gleichschaltung aller
Aspekte des Alltages durch den Nationalsozialismus. Mit
Ekel registrierte er, wie bei überraschend vielen – auch bei
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ihm selbst – im «Hitlergruß» die Arme in einer Weise hochgezogen
wurden, in dem man sich selbst zu einer Marionette
herabwürdigte. Stichworte für den damals wirkenden Automatismus,
der allerdings durch einen allerorten in der Gesellschaft
präsenten offenen Staatsterror flankiert war, sind ihm
unter anderem der «Rausch des Patriotismus» und der «Magnetismus
der Masse» (Haffner 2002).
Die Vorgänge in Rostock-Lichtenhagen in den vier Tagen
illustrierten nicht nur die Sehnsucht der Harald Ewerts
nach Selbstunterordnung und Versorgung durch einen starken
und aggressiven deutschen Staat, in dem beliebig als
«fremd» Disqualifizierte weder Anspruch auf Rechte haben,
noch überhaupt auf einen Platz unter den «VolksgenossInnen
» hoffen dürfen. Zugleich besorgten solche MitläuferInnen
wie Ewert mit ihrem «Hitlergruß» sowie seiner theoretischen
Legitimation als «automatisch» eine spezifische
politische Interpretation: In der sogenannten Asyldebatte aktualisierte
die dabei in Anschlag gebrachten Praxis von Menschenjagd,
Mord und Totschlag den Furor der deutschen
Geschichte aus den Jahren 1933 bis 1945. Wenn in diesem
Land der «Hitlergruß» gezeigt wird, haben noch ganz andere
einen sehr guten Grund, sich dadurch angesprochen zu
fühlen. Nach Haffner beschrieben schon die «Anfänge der
Nazi-Revolution in Deutschland» einen Vorgang, der «exakt
darauf abzielte, uns aus der Welt zu schaffen». Das wird
auch der damals frisch gewählte Vorsitzende des Zentralrates
der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, so gesehen haben.
Noch im August 1992 machte er sich persönlich vor Ort
ein Bild von dem teilweise ausgebrannten Sonnenblumenhaus.
Etwa einen Monat später wurde die sogenannte Jüdische
Baracke in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers
Sachsenhausen niedergebrannt. Das demonstrative Engagement
gegen den von Ewert in Stellung gebrachten «Automatismus
» sollte dem notwendig diplomatisch agierenden
Funktionär der deutschen Juden und Jüdinnen, Bubis, später
nicht nur gedankt werden. Als er von der Bürgerschaft
der Hansestadt Rostock Anfang November 1992 zu einem
Gespräch über das Pogrom eingeladen wurde, stellte ihm
der Vorsitzende des Innenausschusses der Stadt, Karlheinz
Schmidt (CDU), auf einer Pressekonferenz eine wohl kalkulierte
Frage: «Sie sind deutscher Staatsbürger jüdischen
Glaubens. Ihre Heimat ist doch Israel. Ist das richtig so? Wie
beurteilen Sie die täglichen Gewalttaten zwischen Palästinensern
und Israelis?» (Süddeutsche Zeitung, 3.11.1992).
Voilà! Mit den in dieser Frage liegenden Implikationen wurde
Bubis zunächst zum Fremden gemacht, und noch wichtiger,
es wurde ihm nachgewiesen, dass «er und seine Leute» ja
schließlich auch … Herr Schmidt rührte damit an eine für Juden
und Jüdinnen in diesem Land in den Jahren nach 1933
bittere und meist tödliche Erfahrung, die durch die gnadenlos
exekutierte Verwaltungspraxis des nationalsozialistisch
gleichgeschalteten Apparats deutscher Behörden grausam
verwirklicht worden war.
Noch sechs Jahre später, im Dezember 1998, kam der
Schriftsteller Martin Walser in einem Streitgespräch mit
Ignatz Bubis auf dessen demonstrativen Besuch in Rostock-
Lichtenhagen zu sprechen. Walser hatte zuvor in seiner
Paulskirchen-Rede 1998 gegen die «Moralkeule Auschwitz»
gewettert, von der er wünschte, nicht mehr belästigt zu werden,
woraufhin ihm von Bubis «geistige Brandstiftung» vorgeworfen
worden war. Konsequent in seiner Geistesbewegung
wollte Walser nach Auschwitz nun auch nichts mehr
von Rostock hören. Perfider O-Ton Walser gegenüber Bubis:
Walser: Das können die Leute nicht mehr hören, diesen Generalverdacht.
[…] Schauen Sie, wenn in der Bundesrepublik
Brutalitäten gegen Ausländer vorkommen, gegen Asylanten,
dann sind unsere Medien sofort bereit, das zurückzubinden an
diese deutsche Vergangenheit. […] Ich glaube, ich habe Sie
im Fernsehen gesehen in Lichtenhagen bei Rostock. Jetzt frage
ich Sie, als was waren Sie dort?
Bubis: Das will ich Ihnen sagen. […] In Lichtenhagen […]
stand [ich] vor dem Haus mit den verrußten Fenstern und
habe mir vorgestellt, es waren Menschen drin und es wurden
Molotowcocktails dort reingeschmissen. Das hat bei mir
schlimmste Erinnerungen wachgerufen. Nur, das habe ich
auch gesagt, mit dem Unterschied, das war in Lichtenhagen
der Mob. Und das, woran ich mich erinnert habe, war der
Staat, der das organisiert und durchgeführt hat. Das habe ich
immer wieder gesagt.
Walser: Ja, aber verstehen Sie, wenn Sie auftauchen, dann
ist das sofort zurückgebunden an 1933.
(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.12.1998)
Der bundesrepublikanische Großschriftsteller Martin Walser
erachtete in dem Gespräch mit Bubis die Rückbindung
des Agierens der «Sieg Heil!» Schreienden, den «Hitlergruß»
zeigenden Menge an die Verbrechen des Nationalsozialismus
als deplatziert. Das Offensichtliche wird vom ihm einfach
geleugnet.
In gewisser Weise kommt ihm Bubis dabei sogar ein wenig
entgegen, wenn er im Vergleich zwischen den Ereignissen
in Rostock-Lichtenhagen mit dem Nationalsozialismus eine
Entgegensetzung von Mob und Staat nahelegt. In Rostock
haben sich aber diese scheinbaren Antipoden – unter dem
Tisch, könnte man sagen – die Hand gereicht. Verbleibt man
in den historischen Analogien, so könnte man hier von einer
Art der «staatlichen Rahmung» ähnlich der sprechen, wie sie
von den letzten Regierungen in der Weimarer Republik gegenüber
der aufstrebenden NSDAP in den Jahren 1932/33
praktiziert worden ist. Den beiden Reichskanzlern Franz von
Papen und Kurt von Schleicher war die nationalsozialistische
Bewegung zur endgültigen Beseitigung der parlamentarischen
Ordnung mehr als willkommen, allein ihr wurde noch
kein politischer Führungsanspruch zugebilligt.
Das wechselseitig aufeinander bezogene Verhältnis zwischen
dem bundesdeutschen Staat, hier vertreten durch das
Innenministerium in Schwerin, und dem Mob am Beispiel
des Pogroms in Rostock fand eine sehr präzise Markierung
in einer Aussage des Innenministers Kupfer selbst. Am 25.
September 1992 quittierte er zunächst die Frage danach, ob
man denn nicht «doch sehr erfolgreich» gewesen sei, «die
Asylanten sind weg, das Grundgesetz wird sogar geändert»
mit einem «Ja», um darüber hinaus kühl zu erklären: «Die
Rechten haben bewirkt, die Politiker dafür zu sensibilisieren,
dass das Asylrecht eingeschränkt wird und dass das Sicherheitsgefühl
der Bevölkerung an erster Stelle steht – nicht nur
in Ostdeutschland» (Funke 1993).
Hitzegrade: Die Folgen des Pogroms
Hinsichtlich konkreter personeller Konsequenzen ist das Pogrom
von Rostock so gut wie nicht geahndet worden. Es sind
gerade mal zwei Politiker zurückgetreten, der Landesinnenminister
Lothar Kupfer und der Rostocker Oberbürgermeister
Klaus Kilimann (SPD). Der Gesamteinsatzleiter der Polizei,
Siegfried Kordus, wurde nach dem August 1992 sogar
zum Leiter des Landeskriminalamtes Mecklenburg-Vorpommerns
befördert. Gegen ihn und seinen Stellvertreter Jürgen
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Deckert war noch im März 1994 eine Anklage wegen fahrlässiger
Brandstiftung erhoben worden. Die Rostocker Staatsanwaltschaft
hielt die beiden Polizeiführer für hinreichend
verdächtig, dass sie «in der betreffenden Krawallnacht hätten
erkennen müssen, dass die Asylbewerberstelle und das
Vietnamesenwohnheim im Stadtteil Lichtenhagen bedroht
waren und in Gefahr standen, in Brand gesetzt zu werden»
(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.3.1994). Die Anklage
wurde jedoch von dem zuständigen Gericht nicht zugelassen
– der Nachweis, durch Unterlassen eine Handlung befördert
zu haben, war in dieser Angelegenheit im Ergebnis
nicht justiziabel. Im Zeitraum eines Jahres, das heißt bis zum
August 1993, wurden gegen 375 Personen strafrechtliche
Ermittlungsverfahren eingeleitet. Gerade einmal 44 davon
wurden verurteilt, davon lediglich vier zu Haftstrafen ohne
Bewährung. Allein ein Strafverfahren beschäftigte sich mit
der Brandstiftung vom Montag, 24. August 1992. Erst gegen
Ende des Jahres 2001 sollte es hierzu noch ein Verfahren geben
– sechs Jahre nachdem die Staatsanwaltschaft Anklage
gegen vier jugendliche Angeklagte erhoben hatte. «Den verzögerten
Prozessbeginn begründete das Gericht mit Arbeitsüberlastung
» (Guski 2012). In diesem letzten Strafverfahren
wurden die Angeklagten nicht mehr nur wegen Brandstiftung,
sondern auch des versuchten Mordes beschuldigt.
Der Angeklagte Ronny Sanne erklärte vor Gericht: «Es war
ein Riesenabenteuer. […] Aber was da passiert ist, darüber
waren wir uns nicht im Klaren. Ich war Teil der Meute,
die Menschen Todesangst eingejagt hat» (Billerbeck 2002).
Wenigstens hier wurden die Angeklagten Mitte Juni 2002
wegen versuchten Mordes und Brandstiftung zu Bewährungsstrafen
verurteilt. Dennoch muss für die justizielle Aufarbeitung
des Pogroms von Rostock festgehalten werden,
dass für eine Vielzahl von TäterInnen, die zum großen Teil bei
der Begehung der gemeinschaftlichen Tat auch filmisch oder
fotografisch festgehalten worden sind, für einen hundertfachen
Mordversuch faktisch Straffreiheit realisiert worden
ist. Besonders bemerkenswert ist dabei der Beschluss der
Staatsanwaltschaft Rostock noch im Dezember 1992, alle
Verfahren wegen Volksverhetzung gegen die aktiv am Pogrom
Beteiligten einzustellen. Die hier in Anschlag gebrachte
Argumentation des zuständigen Staatsanwaltes: «Die häufig
gehörten Rufe wie ‹Ausländer raus› und ‹Deutschland den
Deutschen› erfüllen die von der Rechtsprechung geforderten
Voraussetzungen nicht, weil sie zwar gegen das Bleiberecht
eines Ausländers und damit im weiteren Sinne diskriminierend,
aber nicht gegen ihr Lebensrecht in der Gemeinschaft
und damit gegen den Persönlichkeitskern eines Ausländers
gerichtet sind.» Somit sei aus der Sicht der Staatsanwaltschaft
ein Nachweis einer Volksverhetzung nicht zu führen
(ak – analyse & kritik, Nr. 357, 25.8.1993). Von dieser feinsinnigen
Begründung zum Zwecke der Verfahrenseinstellung,
die natürlich wie Walser den Bezug zum Nationalsozialismus
kappt, konnte Harald Ewert allerdings nicht profitieren. Für
seinen «Hitlergruß» wurde er im Frühjahr 1993 wegen der
Verletzung des Paragrafen 86 a Strafgesetzbuch («Verwenden
von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen»)
zu einer Geldstrafe in Höhe von 300 DM verurteilt (vgl. Hampel
2002).
Die unmittelbar bis in die Gegenwart reichenden politischen
Folgen des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen sind
schnell aufgezählt: Das in Artikel 16 des Grundgesetzes
stets pathetisch an die Erfahrungen des Nationalsozialismus
zurückgebundene und angeblich als Lehre daraus verankerte
Asylrecht wurde bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.
Helmut Kohl hatte einmal in für derartige Anlässe typischer
Opfer-Täter-Verdrehung, nur zwei Monate nach Rostock,
Ende Oktober 1992 auf dem CDU-Bundesparteitag wegen
der Aufnahme von Flüchtlingen «mit Bedacht» die Formel
eines «Staatsnotstandes» in die öffentliche Debatte geworfen:
«Die Grenze der Belastbarkeit ist überschritten. Die Situation
hat sich dramatisch zugespitzt» (CDU-Bundesparteitag
1992). Mit der Verwendung dieses Begriffes wollte der
Kanzler selbstverständlich die Erinnerung an die Notverordnungspolitik
von Reichskanzler Heinrich Brüning, dem Liquidatoren
der parlamentarischen Demokratie in Weimar
1930 bis 1932, wecken. Der liberale Kommentator der Süddeutschen
Zeitung, Heribert Prantl, suchte das zwar noch in
einem Kommentar in die Perspektive einer «Staatsnotwehr
gegen Neonazis» umzudrehen: «Es stellt sich die Frage, ob
der innere Notstand, vor dem der Kanzler warnt, nicht schon
eingetreten ist. Angreifer sind freilich nicht die Flüchtlinge,
sondern Neonazis und Rechtsradikale. Angegriffen wird
das Leben von Ausländern in Deutschland, hundertfach,
und angegriffen wird das Gedenken an die Opfer der braunen
Barbarei» (28.10.1992). Allein: Anfang Dezember 1992
schwenkte auch die SPD endgültig auf die Kohl‘sche Politik
ein. Ende Mai 1993 wurde das Asylrecht mit einer Zweidrittelmehrheit
im Bundestag, bestehend aus Christ-, Frei- und
SozialdemokratInnen, quasi abgeschafft. Ohne die Gültigkeit
der Genfer Flüchtlingskonvention und Ausnahmefälle
(die Anerkennungsquote «politisch Verfolgter» nach Art. 16
GG liegt traditionell im unteren einstelligen Bereich der Asylverfahren)
wäre die Bundesrepublik heute ein flüchtlingsfreies
Land. In den rund drei Jahren von der Vereinigung der
Deutschländer bis zur Beseitigung des Asylrechts in der alten
Fassung wurden 50 Menschen aus rassistischen Gründen
ermordet. Das Pogrom von Rostock markiert die entscheidende
Etappe zur Abschaffung des Asylrechts im Mai
1993. Etwa ein Jahr später, Anfang März 1994, bilanzierte
der Rudolf Seiters im Amt des Bundesinnenministers nachgefolgte
Manfred Kanther (CDU) mit einer markanten Äußerung
geradezu feixend die politischen Konsequenzen des
brennenden Sonnenblumenhauses von Rostock-Lichtenhagen:
«Jetzt kommen nicht mehr 30.000, sondern 10.000
Flüchtlinge. Das ist immerhin etwas. […] Dieses Ergebnis
wäre nicht erzielbar gewesen ohne die öffentliche Auseinandersetzung
– die natürlich auch Hitzegrade erzeugt hat»
(Prantl u.a. 1994).
Extremismus-Doktrin reloaded
Das Pogrom besorgte auch eine kaum glaubliche Revitalisierung
der Extremismus-Doktrin. Sowohl Mecklenburg-Vorpommerns
Innenminister Kupfer als auch Ministerpräsident
Berndt Seite beschuldigten nicht RassistInnen oder NeofaschistInnen
für die Vorgänge in Lichtenhagen verantwortlich
zu sein, sondern diejenigen, die sich versucht hatten,
Letzteren entgegenzustellen: Autonome. O-Ton Kupfer: «Die
Störer gehören nachweislich ihrer Herkunft und ihres Verhaltens
zum Teil zur rechts- und linksradikalen Szene, aber
auch zum Kreis der Autonomen.» Ministerpräsident Seite sekundierte:
«Die Aktivitäten solcher Gewalttäter beschränken
sich nicht allein auf Mecklenburg-Vorpommern. Wir kennen
sie auch aus Brokdorf, aus der Hafenstraße in Hamburg, von
der Startbahn-West in Frankfurt und Wackersdorf» (Schmidt
2002). Bundesinnenminister Seiters nahm das in der nach
den Ereignissen anberaumten Sitzung des Bundestags5
innenausschusses auf, als er dort erklärte: «Mich beunruhigt
weiter das in Rostock zu beobachtende Zusammenwirken
[…] von rechtsextremistisch, ausländerfeindlich motivierten
Gewalttätern und Autonomen, wenn es galt, gegen die Polizei
vorzugehen» (Deutscher Bundestag 1992). In der gleichen
Sitzung bekannte er sich demonstrativ zur Stärkung einer
Behörde, von der niemals bekannt geworden ist, dass sie
von den zum Teil in den lokalen Gazetten der Stadt Rostock
vorab angekündigten Attacken auf die Flüchtlinge etwas mitbekommen
hatte: des Verfassungsschutzes. Und so wurden
nach Rostock mit der perfiden Formel eines «68 von rechts»,
so der Hamburger Verfassungsschutzpräsident Ernst Uhrlau
(Spiegel, 2.11.1992), die Verfassungsschutzbehörden mit
dem Ziel neu aufgestellt, den organisierten Neofaschismus,
der sich aus konservativer Sicht als eine nützliche Sturmtruppe
zur Beseitigung des Asylrechts erwiesen hatte, in eine
neue Form der staatlichen Verwaltung zu überführen. Eine
erste Auskunft darüber, was das im Detail bedeutete, gab der
Verlauf des NPD-Verbotsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht
in den Jahren 2001 bis 2003. Ein kaum fassbares
Ausmaß der interaktiven Verschränkung zwischen MitarbeiterInnen
der Verfassungsschutzbehörden mit der NPD
wurde offenkundig. Ähnlich stellt es sich zwischenzeitlich in
der Aufarbeitung der Anfang November 2011 bekannt gewordenen
Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen
Untergrunds (NSU) dar. Die «Dachorganisation» dieser
Terrorzelle, der Thüringer Heimatschutz (THS), wurde
über Jahre hinweg nicht nur mit hohen Geldleistungen der
Verfassungsschutzbehörden alimentiert, sondern auch geführt.
Auch in den gegenwärtig bekannt gewordenen Tatsachen
um die NSU-Mordserie findet sich etwas wieder, was
auch schon Rostock in Bezug auf die staatlichen Behörden
politisch sichtbar wurde: Eine Mischung aus institutionalisiertem
und offenem Rassismus, politischer Kumpanei, tätigem
Unterlassen und Verschwörung – kaschiert mit den
Wortmodulen «Pannen», «Fehler» und «Versagen».
Nie wieder!
Heute ist darauf zu bestehen, dass sich die Ereignisse von
Rostock-Lichtenhagen in den Tagen vom 22. bis zum 25.
August 1992 mit dem Feuerschein der Pogrome vom 9.
November 1938 allemal begründet assoziieren lassen. Die
«schlimmsten Erinnerungen» des Ignatz Bubis beschreiben
den Maßstab, um die schlichte historische Wahrheit der vier
Tage von Rostock Ende August 1992 abzumessen. Wer versucht,
den Nationalsozialismus in das Mittelalter zu verbannen
und so zu tun, als habe die deutsche Gegenwart damit
nichts mehr zu tun, verkennt, dass er sein Haupt offenbar jederzeit
erheben könnte. In Rostock-Lichtenhagen ist genau
das passiert. Von unten und nur für Momente. Und daran haben nicht nur automatisch NationalsozialistInnen, sondern auch viele andere durch kühles Kalkül mitgewirkt. Wer das verdrängt, riskiert die Wiederkehr. Das und nichts anderes hat der Rahmen einer Interpretation zu sein, die sich gegen jeden «Automatismus» dem «Nie wieder!» verpflichtet weiß.
Dr. rer. pol Markus Mohr nahm am 29. August 1992 am autonomen Block der Massendemonstration wegen des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen teil. Sie wurde stundenlang von mehreren tausend
Polizeibeamten blockiert. Er lebt heute in Hamburg-Altona.
Vier Tage im August
Vor 20 Jahren kam es in Rostock Lichtenhagen zum Pogrom
«Was mich als Innenpolitiker belastet, ist, dass Vorgänge eingetreten sind, die in der Geschichte der Bundesrepublik wirklich
ihresgleichen suchen.»
Der ehemalige Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen und FDP-Bundestagsabgeordnete Burkhard Hirsch am 31. August 1992 im Bundestagsinnenausschuss
Am Mittwoch, den 19. August 1992 vermeldete ein Bericht der Rostocker Lokalzeitung Norddeutsche Neueste Nachrichten
die Ankündigung einer «Bürgerwehr» im Stadtteil Lichtenhagen, dass man die dortige Zentrale Aufnahmestelle für
Flüchtlinge (ZASt) «aufräumen» wolle. Ein anonymer Anrufer teilte unmissverständlich mit: «Wenn die Stadt nicht bis Ende
der Woche in Lichtenhagen für Ordnung sorgt, dann machen wir das. Und zwar auf unsere Weise.» Die andere Lokalzeitung
der Stadt, die Ostseezeitung, rapportierte zwei Tage später die Ankündigung mehrerer Bewohner des Stadtviertels,
dass die «rumänischen Roma ‹aufgeklatscht› werden sollen: «‹Wir werden dabei sein›, sagt Thomas, ‹und du wirst sehen,
die Leute, die hier wohnen, werden aus den Fenstern schauen und Beifall klatschen›.» Diese in aller Öffentlichkeit ausgestoßenen
düsteren Prophezeiungen sollten in den darauf folgenden Tagen für eine Vielzahl von Flüchtlingen und vietnamesischen
ArbeitsmigrantInnen zur grausamen Wahrheit werden. Die Choreografie dieses für die Geschichte der Bundesrepublik
unfassbaren Pogroms ist vielfach beschrieben worden. Mit diesem Text soll es darum gehen, wesentlich auf die
nazistische Qualität dieses Ereignisses abzustellen.
In den Abendstunden des 24. August des Jahres 1992 versammelten
sich in Rostock-Lichtenhagen wenigstens 3.000
Menschen. Sie bildeten nicht einfach nur eine Menge, sondern
sie verwandelten sich in einen Mob und waren dazu
bereit, mehr als 100 BewohnerInnen des «Sonnenblumenhauses
» – ein Plattenbau, der wegen eines großflächigen
Ziermosaiks
an einer Seitenwand so genannt wird – unter
Absingen und Schreien von Parolen wie «Deutschland, den
Deutschen, Ausländer raus!», «Sieg Heil!» oder «Wir kriegen
euch alle!» durch Brandschatzen in Lebensgefahr zu bringen.
Parallel dazu waren Imbisse geöffnet. Es konnten gegrillte
Würstchen käuflich erworben werden. Die internationalen
Medien waren vor Ort. Die Weltöffentlichkeit sah zu. Die keineswegs überraschten, gleichwohl personell nur schwach vertretenen Polizeikräfte vor Ort, erhielten noch im Verlauf der Auseinandersetzungen den Befehl, den Schutz des Wohnhauses
in der Mecklenburger Straße 18 einfach einzustellen
und abzuziehen. Die in ihrem Leben bedrohten BewohnerInnen dieses Hauses wurden für mehrere Stunden dem brandschatzenden Mob überlassen, der Notruf der lokalen Polizei war für sie nicht mehr erreichbar. Die nicht von der Polizei verständigte
Feuerwehr wurde über Stunden von der zu allem bereiten
Menge am Löschen gehindert. Sowohl der amtierende
2
Motivlagen und die umsichtige Abwehr individueller Verantwortung
sich mit den Mechanismen einer arbeitsteilig organisierten
staatlichen Verwaltung verschränken: Da gab es ein
lange währendes berechnend tätiges Unterlassen staatlicher
Behörden in der Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen.
Sie wurden systematisch Bedingungen unterworfen, die darauf
zielten, dass sie nicht mehr als Menschen wahrgenommen
werden. Gegen sie richtete sich ein unterschwelliger,
aber auch ausdrücklich öffentlich bekundeter und propagierter
Rassismus durch Teile der lokalen Bevölkerung und
der lokalen Presse. In diesem Zusammenhang wurde konsequent
das Engagement organisierter NeofaschistInnen einkalkuliert.
Am Ende zielte eine kalt kalkulierte Verschwörung
aus dem Zentrum der bundesdeutschen Innenpolitik darauf
ab, die noch vor Ort eingesetzten schwachen Polizeikräfte in
die Handlungsunfähigkeit zu manövrieren. All das trug zur
Entfesselung einer Situation bei, die für einen historischen
Moment in diesem Land erneut das Tor zur Hölle aufstieß.
Über den Verlauf des Pogroms und seine politische Vorgeschichte
ist bereits vieles in den sehr verdienstvollen Abhandlungen
von Diederichs (1993), Funke (1993), Schmidt
(2002) und Prenzel (2012), partiell auch aus einigen aus dem
Untersuchungsausschuss des Landtages von Mecklenburg-
Vorpommern im Verlaufe des Jahres 1993 hervorgegangenen
Drucksachen gesagt und beschrieben worden: Von heute
aus gesehen ist es unstrittig, dass Flüchtlingen vonseiten
des Innenministeriums in Schwerin und der Stadt Rostock
bei der Versorgung und weiteren administrativen Behandlung
in der Zentralen Aufnahmestelle für Flüchtlinge (ZASt)
elementare Hilfestellungen vorenthalten wurden – eine politische
Praxis der gezielten Obstruktion, die im Nachhinein
mit der allfälligen Vokabel des «Versagens» bemäntelt
wurde. Die zunächst von neofaschistischen Gruppen in der
West-Bundesrepublik Anfang der 1980er Jahre angestoßene
Kampagne zur Beseitigung des Asylrechts aus dem
Grundgesetz war nach der Eingliederung der DDR in die
Bundesrepublik von CDU/CSU aufgegriffen und kampagnenartig
verallgemeinert worden. Desaströse Lebensbedingungen
für Flüchtlinge lagen in ihrem politischen Kalkül.
Dass der katastrophale Polizeieinsatz in den Abendstunden
offenkundig so «gewollt» gewesen sei, hatte sich nach
einem zeitgenössischen Pressebericht sogar bis in die Reihen
der Polizei selbst herumgesprochen: «Die Polizisten erzählen,
dass die meisten der Kollegen der Ansicht seien, der
verkorkste Einsatz sei aus irgendwelchen Gründen gewollt
gewesen. ‹Warum›, spekuliert einer, ‹weiß keiner so recht.
Vielleicht sollte es einfach die große Katastrophe geben.› Einer
sagt, wie sehr er sich gewundert habe, ‹als wir plötzlich
von dem Heim weggezogen wurden›. Ein anderer meint,
schon den ganzen Tag seien so ‹merkwürdige Dinge› über
Funk gelaufen, die keiner verstanden habe. Ein dritter, der
in einer Hundertschaft nahe des Schauplatzes postiert war,
weiß noch, wie alle den Kopf geschüttelt haben, als sie das
brennende Haus gesehen haben, ‹aber nicht los durften. Das
darf doch nicht wahr sein.› Es ist anscheinend so, dass sich
viele Polizisten in Rostock verraten und missbraucht fühlen»
(Lebert 1992). Doch diese Ahnungen der PolizeibeamtInnen
beantworten nicht die Frage nach der spezifischen politischen
Qualität dessen, was sich dort abspielte.
An dem Verlauf und der Choreografie des Pogroms von
Rostock ist vieles bemerkenswert, zentral muss aber für
heute die Einsicht sein, dass hier in der politischen Wirklichkeit
der Bundesrepublik der historische Nationalsozialismus
durchschimmerte. Konkret: Bei fortexistierender Verfassung
flankierte der Staatsapparat terroristisches Handeln einzelner
Gruppen, deren Gewalt sich an keiner humanen Zielsetzung
mehr zu legitimieren braucht und ausschließlich dazu dient,
Furcht, Angst und Schrecken zu verbreiten, um so am Ende
den «starken Mann» herbeirufen zu können. Das erscheint zunächst
banal. Das ist es aber dann nicht, wenn man bedenkt,
dass in der Bundesrepublik über die Gegenwärtigkeit des Nationalsozialismus
in einem politischen Sinne nur in dem distanzierend
erscheinenden Begriff des Rechtsextremismus
gesprochen werden soll. Und es gehört zur Staatsräson der
Bundesrepublik, dass eben dieser Rechtsextremismus stets
an jenem gesellschaftlichen Rand agiert, auf den dann alle
angewidert mit dem Finger zeigen können. In Rostock stand
der aber im Zentrum des Geschehens und verwandelte sich
in das, was er immer schon war: in den Nationalsozialismus.
Und die etablierten konservativen Kräfte des Staates haben
an diesem Punkt mit ihm praktisch wie ideell für einen kurzen
Moment erneut so etwas wie einen «Pakt» geschlossen, mit
dem Ziel, das in der Verfassung prominent verankerte Grundrecht
auf Asyl zu kippen (vgl. Siegler u.a 1993).
Für die vier Tage Ende August 1992 vor der ZASt und dem
Wohnheim für die vietnamesischen VertragsarbeiterInnen
gibt es ein Bild, das den applaudierenden Mob gespenstisch
versinnbildlicht: Es zeigt den damals 38 Jahre alten arbeitslosen
Baumaschinisten Harald Ewert aus dem benachbarten
Rostock-Reutershagen. Nachdem er vom Pogrom im
Radio gehört hatte, war er dort hingeeilt und hatte es sich
über Stunden als neugieriger Zuschauer angesehen. Das
Foto zeigt ihn in den Abendstunden des 24. A ugust 1992
in der Menge des gaffenden Publikums, bekleidet mit dem
schwarz-rot-goldenen Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft.
In seiner weißen Jogginghose ist im Schritt ein
großer feuchter Fleck zu erkennen, und er hebt mit trunkenglasigen
Augen den rechten Arm zum sogenannten Hitlergruß.
Eine trostlose Figur zweifellos, sicher auch lächerlich,
aber deswegen etwa nicht ernst zu nehmen? Erschien denn
nicht auch dem kundigen Theodor W. Adorno in der ersten
Hälfte der 1930er Jahre ein Herr namens Hitler nicht einmal
als eine «Verbindung von King Kong und Vorstadtfriseur
»?
Und mit dieser Formulierung trieb ihn alles andere als die Absicht
um, diesen als eine nichtige, geradezu harmlose Comicfigur
zu verniedlichen. In einem Interview mit der Zeitschrift
Stern brachte Ewert für den Urinfleck die Ausrede vor,
dass ihm auf der Autofahrt eine zwischen den Beinen eingeklemmte
Büchse Bier ausgelaufen sei. Interessanter ist
jedoch seine Begründung für den «Hitlergruß»: «Das ging
ganz automatisch», sagte er, aber selbstverständlich sei er
«kein Nazi» (Schmitz u.a. 1993,; Hampel 2002). Ohne es zu
wissen, fokussiert der zeit seines Lebens niemals im organisierten
Neofaschismus hervorgetretene Nicht-Intellektuelle
Ewert mit dieser Aussage einen bedeutenden Aspekt in
der deutschen Geschichte. Und über den hatte auch schon
kein Geringerer als Sebastian Haffner nachgedacht. Der konservative
Preuße Haffner kann als einer der bedeutendsten
PublizistInnen
in der Geschichte der Bundesrepublik angesehen
werden. In seinen Ende der 1930er Jahre niedergeschriebenen,
aber erst lange nach seinem Tod im Jahre
2000 publizierten Jugenderinnerungen unter dem Titel «Geschichte
eines Deutschen» beschrieb er die sich im Verlaufe
des Jahres 1933 rasant vollziehende Gleichschaltung aller
Aspekte des Alltages durch den Nationalsozialismus. Mit
Ekel registrierte er, wie bei überraschend vielen – auch bei
3
ihm selbst – im «Hitlergruß» die Arme in einer Weise hochgezogen
wurden, in dem man sich selbst zu einer Marionette
herabwürdigte. Stichworte für den damals wirkenden Automatismus,
der allerdings durch einen allerorten in der Gesellschaft
präsenten offenen Staatsterror flankiert war, sind ihm
unter anderem der «Rausch des Patriotismus» und der «Magnetismus
der Masse» (Haffner 2002).
Die Vorgänge in Rostock-Lichtenhagen in den vier Tagen
illustrierten nicht nur die Sehnsucht der Harald Ewerts
nach Selbstunterordnung und Versorgung durch einen starken
und aggressiven deutschen Staat, in dem beliebig als
«fremd» Disqualifizierte weder Anspruch auf Rechte haben,
noch überhaupt auf einen Platz unter den «VolksgenossInnen
» hoffen dürfen. Zugleich besorgten solche MitläuferInnen
wie Ewert mit ihrem «Hitlergruß» sowie seiner theoretischen
Legitimation als «automatisch» eine spezifische
politische Interpretation: In der sogenannten Asyldebatte aktualisierte
die dabei in Anschlag gebrachten Praxis von Menschenjagd,
Mord und Totschlag den Furor der deutschen
Geschichte aus den Jahren 1933 bis 1945. Wenn in diesem
Land der «Hitlergruß» gezeigt wird, haben noch ganz andere
einen sehr guten Grund, sich dadurch angesprochen zu
fühlen. Nach Haffner beschrieben schon die «Anfänge der
Nazi-Revolution in Deutschland» einen Vorgang, der «exakt
darauf abzielte, uns aus der Welt zu schaffen». Das wird
auch der damals frisch gewählte Vorsitzende des Zentralrates
der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, so gesehen haben.
Noch im August 1992 machte er sich persönlich vor Ort
ein Bild von dem teilweise ausgebrannten Sonnenblumenhaus.
Etwa einen Monat später wurde die sogenannte Jüdische
Baracke in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers
Sachsenhausen niedergebrannt. Das demonstrative Engagement
gegen den von Ewert in Stellung gebrachten «Automatismus
» sollte dem notwendig diplomatisch agierenden
Funktionär der deutschen Juden und Jüdinnen, Bubis, später
nicht nur gedankt werden. Als er von der Bürgerschaft
der Hansestadt Rostock Anfang November 1992 zu einem
Gespräch über das Pogrom eingeladen wurde, stellte ihm
der Vorsitzende des Innenausschusses der Stadt, Karlheinz
Schmidt (CDU), auf einer Pressekonferenz eine wohl kalkulierte
Frage: «Sie sind deutscher Staatsbürger jüdischen
Glaubens. Ihre Heimat ist doch Israel. Ist das richtig so? Wie
beurteilen Sie die täglichen Gewalttaten zwischen Palästinensern
und Israelis?» (Süddeutsche Zeitung, 3.11.1992).
Voilà! Mit den in dieser Frage liegenden Implikationen wurde
Bubis zunächst zum Fremden gemacht, und noch wichtiger,
es wurde ihm nachgewiesen, dass «er und seine Leute» ja
schließlich auch … Herr Schmidt rührte damit an eine für Juden
und Jüdinnen in diesem Land in den Jahren nach 1933
bittere und meist tödliche Erfahrung, die durch die gnadenlos
exekutierte Verwaltungspraxis des nationalsozialistisch
gleichgeschalteten Apparats deutscher Behörden grausam
verwirklicht worden war.
Noch sechs Jahre später, im Dezember 1998, kam der
Schriftsteller Martin Walser in einem Streitgespräch mit
Ignatz Bubis auf dessen demonstrativen Besuch in Rostock-
Lichtenhagen zu sprechen. Walser hatte zuvor in seiner
Paulskirchen-Rede 1998 gegen die «Moralkeule Auschwitz»
gewettert, von der er wünschte, nicht mehr belästigt zu werden,
woraufhin ihm von Bubis «geistige Brandstiftung» vorgeworfen
worden war. Konsequent in seiner Geistesbewegung
wollte Walser nach Auschwitz nun auch nichts mehr
von Rostock hören. Perfider O-Ton Walser gegenüber Bubis:
Walser: Das können die Leute nicht mehr hören, diesen Generalverdacht.
[…] Schauen Sie, wenn in der Bundesrepublik
Brutalitäten gegen Ausländer vorkommen, gegen Asylanten,
dann sind unsere Medien sofort bereit, das zurückzubinden an
diese deutsche Vergangenheit. […] Ich glaube, ich habe Sie
im Fernsehen gesehen in Lichtenhagen bei Rostock. Jetzt frage
ich Sie, als was waren Sie dort?
Bubis: Das will ich Ihnen sagen. […] In Lichtenhagen […]
stand [ich] vor dem Haus mit den verrußten Fenstern und
habe mir vorgestellt, es waren Menschen drin und es wurden
Molotowcocktails dort reingeschmissen. Das hat bei mir
schlimmste Erinnerungen wachgerufen. Nur, das habe ich
auch gesagt, mit dem Unterschied, das war in Lichtenhagen
der Mob. Und das, woran ich mich erinnert habe, war der
Staat, der das organisiert und durchgeführt hat. Das habe ich
immer wieder gesagt.
Walser: Ja, aber verstehen Sie, wenn Sie auftauchen, dann
ist das sofort zurückgebunden an 1933.
(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.12.1998)
Der bundesrepublikanische Großschriftsteller Martin Walser
erachtete in dem Gespräch mit Bubis die Rückbindung
des Agierens der «Sieg Heil!» Schreienden, den «Hitlergruß»
zeigenden Menge an die Verbrechen des Nationalsozialismus
als deplatziert. Das Offensichtliche wird vom ihm einfach
geleugnet.
In gewisser Weise kommt ihm Bubis dabei sogar ein wenig
entgegen, wenn er im Vergleich zwischen den Ereignissen
in Rostock-Lichtenhagen mit dem Nationalsozialismus eine
Entgegensetzung von Mob und Staat nahelegt. In Rostock
haben sich aber diese scheinbaren Antipoden – unter dem
Tisch, könnte man sagen – die Hand gereicht. Verbleibt man
in den historischen Analogien, so könnte man hier von einer
Art der «staatlichen Rahmung» ähnlich der sprechen, wie sie
von den letzten Regierungen in der Weimarer Republik gegenüber
der aufstrebenden NSDAP in den Jahren 1932/33
praktiziert worden ist. Den beiden Reichskanzlern Franz von
Papen und Kurt von Schleicher war die nationalsozialistische
Bewegung zur endgültigen Beseitigung der parlamentarischen
Ordnung mehr als willkommen, allein ihr wurde noch
kein politischer Führungsanspruch zugebilligt.
Das wechselseitig aufeinander bezogene Verhältnis zwischen
dem bundesdeutschen Staat, hier vertreten durch das
Innenministerium in Schwerin, und dem Mob am Beispiel
des Pogroms in Rostock fand eine sehr präzise Markierung
in einer Aussage des Innenministers Kupfer selbst. Am 25.
September 1992 quittierte er zunächst die Frage danach, ob
man denn nicht «doch sehr erfolgreich» gewesen sei, «die
Asylanten sind weg, das Grundgesetz wird sogar geändert»
mit einem «Ja», um darüber hinaus kühl zu erklären: «Die
Rechten haben bewirkt, die Politiker dafür zu sensibilisieren,
dass das Asylrecht eingeschränkt wird und dass das Sicherheitsgefühl
der Bevölkerung an erster Stelle steht – nicht nur
in Ostdeutschland» (Funke 1993).
Hitzegrade: Die Folgen des Pogroms
Hinsichtlich konkreter personeller Konsequenzen ist das Pogrom
von Rostock so gut wie nicht geahndet worden. Es sind
gerade mal zwei Politiker zurückgetreten, der Landesinnenminister
Lothar Kupfer und der Rostocker Oberbürgermeister
Klaus Kilimann (SPD). Der Gesamteinsatzleiter der Polizei,
Siegfried Kordus, wurde nach dem August 1992 sogar
zum Leiter des Landeskriminalamtes Mecklenburg-Vorpommerns
befördert. Gegen ihn und seinen Stellvertreter Jürgen
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Deckert war noch im März 1994 eine Anklage wegen fahrlässiger
Brandstiftung erhoben worden. Die Rostocker Staatsanwaltschaft
hielt die beiden Polizeiführer für hinreichend
verdächtig, dass sie «in der betreffenden Krawallnacht hätten
erkennen müssen, dass die Asylbewerberstelle und das
Vietnamesenwohnheim im Stadtteil Lichtenhagen bedroht
waren und in Gefahr standen, in Brand gesetzt zu werden»
(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.3.1994). Die Anklage
wurde jedoch von dem zuständigen Gericht nicht zugelassen
– der Nachweis, durch Unterlassen eine Handlung befördert
zu haben, war in dieser Angelegenheit im Ergebnis
nicht justiziabel. Im Zeitraum eines Jahres, das heißt bis zum
August 1993, wurden gegen 375 Personen strafrechtliche
Ermittlungsverfahren eingeleitet. Gerade einmal 44 davon
wurden verurteilt, davon lediglich vier zu Haftstrafen ohne
Bewährung. Allein ein Strafverfahren beschäftigte sich mit
der Brandstiftung vom Montag, 24. August 1992. Erst gegen
Ende des Jahres 2001 sollte es hierzu noch ein Verfahren geben
– sechs Jahre nachdem die Staatsanwaltschaft Anklage
gegen vier jugendliche Angeklagte erhoben hatte. «Den verzögerten
Prozessbeginn begründete das Gericht mit Arbeitsüberlastung
» (Guski 2012). In diesem letzten Strafverfahren
wurden die Angeklagten nicht mehr nur wegen Brandstiftung,
sondern auch des versuchten Mordes beschuldigt.
Der Angeklagte Ronny Sanne erklärte vor Gericht: «Es war
ein Riesenabenteuer. […] Aber was da passiert ist, darüber
waren wir uns nicht im Klaren. Ich war Teil der Meute,
die Menschen Todesangst eingejagt hat» (Billerbeck 2002).
Wenigstens hier wurden die Angeklagten Mitte Juni 2002
wegen versuchten Mordes und Brandstiftung zu Bewährungsstrafen
verurteilt. Dennoch muss für die justizielle Aufarbeitung
des Pogroms von Rostock festgehalten werden,
dass für eine Vielzahl von TäterInnen, die zum großen Teil bei
der Begehung der gemeinschaftlichen Tat auch filmisch oder
fotografisch festgehalten worden sind, für einen hundertfachen
Mordversuch faktisch Straffreiheit realisiert worden
ist. Besonders bemerkenswert ist dabei der Beschluss der
Staatsanwaltschaft Rostock noch im Dezember 1992, alle
Verfahren wegen Volksverhetzung gegen die aktiv am Pogrom
Beteiligten einzustellen. Die hier in Anschlag gebrachte
Argumentation des zuständigen Staatsanwaltes: «Die häufig
gehörten Rufe wie ‹Ausländer raus› und ‹Deutschland den
Deutschen› erfüllen die von der Rechtsprechung geforderten
Voraussetzungen nicht, weil sie zwar gegen das Bleiberecht
eines Ausländers und damit im weiteren Sinne diskriminierend,
aber nicht gegen ihr Lebensrecht in der Gemeinschaft
und damit gegen den Persönlichkeitskern eines Ausländers
gerichtet sind.» Somit sei aus der Sicht der Staatsanwaltschaft
ein Nachweis einer Volksverhetzung nicht zu führen
(ak – analyse & kritik, Nr. 357, 25.8.1993). Von dieser feinsinnigen
Begründung zum Zwecke der Verfahrenseinstellung,
die natürlich wie Walser den Bezug zum Nationalsozialismus
kappt, konnte Harald Ewert allerdings nicht profitieren. Für
seinen «Hitlergruß» wurde er im Frühjahr 1993 wegen der
Verletzung des Paragrafen 86 a Strafgesetzbuch («Verwenden
von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen»)
zu einer Geldstrafe in Höhe von 300 DM verurteilt (vgl. Hampel
2002).
Die unmittelbar bis in die Gegenwart reichenden politischen
Folgen des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen sind
schnell aufgezählt: Das in Artikel 16 des Grundgesetzes
stets pathetisch an die Erfahrungen des Nationalsozialismus
zurückgebundene und angeblich als Lehre daraus verankerte
Asylrecht wurde bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.
Helmut Kohl hatte einmal in für derartige Anlässe typischer
Opfer-Täter-Verdrehung, nur zwei Monate nach Rostock,
Ende Oktober 1992 auf dem CDU-Bundesparteitag wegen
der Aufnahme von Flüchtlingen «mit Bedacht» die Formel
eines «Staatsnotstandes» in die öffentliche Debatte geworfen:
«Die Grenze der Belastbarkeit ist überschritten. Die Situation
hat sich dramatisch zugespitzt» (CDU-Bundesparteitag
1992). Mit der Verwendung dieses Begriffes wollte der
Kanzler selbstverständlich die Erinnerung an die Notverordnungspolitik
von Reichskanzler Heinrich Brüning, dem Liquidatoren
der parlamentarischen Demokratie in Weimar
1930 bis 1932, wecken. Der liberale Kommentator der Süddeutschen
Zeitung, Heribert Prantl, suchte das zwar noch in
einem Kommentar in die Perspektive einer «Staatsnotwehr
gegen Neonazis» umzudrehen: «Es stellt sich die Frage, ob
der innere Notstand, vor dem der Kanzler warnt, nicht schon
eingetreten ist. Angreifer sind freilich nicht die Flüchtlinge,
sondern Neonazis und Rechtsradikale. Angegriffen wird
das Leben von Ausländern in Deutschland, hundertfach,
und angegriffen wird das Gedenken an die Opfer der braunen
Barbarei» (28.10.1992). Allein: Anfang Dezember 1992
schwenkte auch die SPD endgültig auf die Kohl‘sche Politik
ein. Ende Mai 1993 wurde das Asylrecht mit einer Zweidrittelmehrheit
im Bundestag, bestehend aus Christ-, Frei- und
SozialdemokratInnen, quasi abgeschafft. Ohne die Gültigkeit
der Genfer Flüchtlingskonvention und Ausnahmefälle
(die Anerkennungsquote «politisch Verfolgter» nach Art. 16
GG liegt traditionell im unteren einstelligen Bereich der Asylverfahren)
wäre die Bundesrepublik heute ein flüchtlingsfreies
Land. In den rund drei Jahren von der Vereinigung der
Deutschländer bis zur Beseitigung des Asylrechts in der alten
Fassung wurden 50 Menschen aus rassistischen Gründen
ermordet. Das Pogrom von Rostock markiert die entscheidende
Etappe zur Abschaffung des Asylrechts im Mai
1993. Etwa ein Jahr später, Anfang März 1994, bilanzierte
der Rudolf Seiters im Amt des Bundesinnenministers nachgefolgte
Manfred Kanther (CDU) mit einer markanten Äußerung
geradezu feixend die politischen Konsequenzen des
brennenden Sonnenblumenhauses von Rostock-Lichtenhagen:
«Jetzt kommen nicht mehr 30.000, sondern 10.000
Flüchtlinge. Das ist immerhin etwas. […] Dieses Ergebnis
wäre nicht erzielbar gewesen ohne die öffentliche Auseinandersetzung
– die natürlich auch Hitzegrade erzeugt hat»
(Prantl u.a. 1994).
Extremismus-Doktrin reloaded
Das Pogrom besorgte auch eine kaum glaubliche Revitalisierung
der Extremismus-Doktrin. Sowohl Mecklenburg-Vorpommerns
Innenminister Kupfer als auch Ministerpräsident
Berndt Seite beschuldigten nicht RassistInnen oder NeofaschistInnen
für die Vorgänge in Lichtenhagen verantwortlich
zu sein, sondern diejenigen, die sich versucht hatten,
Letzteren entgegenzustellen: Autonome. O-Ton Kupfer: «Die
Störer gehören nachweislich ihrer Herkunft und ihres Verhaltens
zum Teil zur rechts- und linksradikalen Szene, aber
auch zum Kreis der Autonomen.» Ministerpräsident Seite sekundierte:
«Die Aktivitäten solcher Gewalttäter beschränken
sich nicht allein auf Mecklenburg-Vorpommern. Wir kennen
sie auch aus Brokdorf, aus der Hafenstraße in Hamburg, von
der Startbahn-West in Frankfurt und Wackersdorf» (Schmidt
2002). Bundesinnenminister Seiters nahm das in der nach
den Ereignissen anberaumten Sitzung des Bundestags5
innenausschusses auf, als er dort erklärte: «Mich beunruhigt
weiter das in Rostock zu beobachtende Zusammenwirken
[…] von rechtsextremistisch, ausländerfeindlich motivierten
Gewalttätern und Autonomen, wenn es galt, gegen die Polizei
vorzugehen» (Deutscher Bundestag 1992). In der gleichen
Sitzung bekannte er sich demonstrativ zur Stärkung einer
Behörde, von der niemals bekannt geworden ist, dass sie
von den zum Teil in den lokalen Gazetten der Stadt Rostock
vorab angekündigten Attacken auf die Flüchtlinge etwas mitbekommen
hatte: des Verfassungsschutzes. Und so wurden
nach Rostock mit der perfiden Formel eines «68 von rechts»,
so der Hamburger Verfassungsschutzpräsident Ernst Uhrlau
(Spiegel, 2.11.1992), die Verfassungsschutzbehörden mit
dem Ziel neu aufgestellt, den organisierten Neofaschismus,
der sich aus konservativer Sicht als eine nützliche Sturmtruppe
zur Beseitigung des Asylrechts erwiesen hatte, in eine
neue Form der staatlichen Verwaltung zu überführen. Eine
erste Auskunft darüber, was das im Detail bedeutete, gab der
Verlauf des NPD-Verbotsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht
in den Jahren 2001 bis 2003. Ein kaum fassbares
Ausmaß der interaktiven Verschränkung zwischen MitarbeiterInnen
der Verfassungsschutzbehörden mit der NPD
wurde offenkundig. Ähnlich stellt es sich zwischenzeitlich in
der Aufarbeitung der Anfang November 2011 bekannt gewordenen
Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen
Untergrunds (NSU) dar. Die «Dachorganisation» dieser
Terrorzelle, der Thüringer Heimatschutz (THS), wurde
über Jahre hinweg nicht nur mit hohen Geldleistungen der
Verfassungsschutzbehörden alimentiert, sondern auch geführt.
Auch in den gegenwärtig bekannt gewordenen Tatsachen
um die NSU-Mordserie findet sich etwas wieder, was
auch schon Rostock in Bezug auf die staatlichen Behörden
politisch sichtbar wurde: Eine Mischung aus institutionalisiertem
und offenem Rassismus, politischer Kumpanei, tätigem
Unterlassen und Verschwörung – kaschiert mit den
Wortmodulen «Pannen», «Fehler» und «Versagen».
Nie wieder!
Heute ist darauf zu bestehen, dass sich die Ereignisse von
Rostock-Lichtenhagen in den Tagen vom 22. bis zum 25.
August 1992 mit dem Feuerschein der Pogrome vom 9.
November 1938 allemal begründet assoziieren lassen. Die
«schlimmsten Erinnerungen» des Ignatz Bubis beschreiben
den Maßstab, um die schlichte historische Wahrheit der vier
Tage von Rostock Ende August 1992 abzumessen. Wer versucht,
den Nationalsozialismus in das Mittelalter zu verbannen
und so zu tun, als habe die deutsche Gegenwart damit
nichts mehr zu tun, verkennt, dass er sein Haupt offenbar jederzeit
erheben könnte. In Rostock-Lichtenhagen ist genau
das passiert. Von unten und nur für Momente. Und daran haben nicht nur automatisch NationalsozialistInnen, sondern auch viele andere durch kühles Kalkül mitgewirkt. Wer das verdrängt, riskiert die Wiederkehr. Das und nichts anderes hat der Rahmen einer Interpretation zu sein, die sich gegen jeden «Automatismus» dem «Nie wieder!» verpflichtet weiß.
Dr. rer. pol Markus Mohr nahm am 29. August 1992 am autonomen Block der Massendemonstration wegen des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen teil. Sie wurde stundenlang von mehreren tausend
Polizeibeamten blockiert. Er lebt heute in Hamburg-Altona.
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