Freitag, 22. März 2024
Detlef Hartmann
Nachdem wir hier die Diskussion darum hatten, was Neuer Antiimperialismus eigentlich meint, möchte ich hier noch einmal seinen radikalsten Denker vorstellen, Detlef Hartmann. Dankeswerter Weise gibt es über ihn einen Wikipedia-Eintrag, der wirklich gut ist.


"Leben und Wirken
Hartmann studierte nach dem Schulbesuch im Hamburger Christianeum in Bordeaux, Freiburg, Hamburg und Berkeley. In Kalifornien beteiligte er sich an den politischen Aktivitäten in der Bay Area, die er als „sozial orientiert“ begriff, auch wenn sie sich vor allem gegen den Vietnamkrieg richteten. 1970 in die BRD zurückgekehrt, setzte er die bis heute andauernde politische Betätigung im Kontext sozialer Auseinandersetzungen fort. 1973 nahm er an der Hausbesetzung in der Hamburger Ekhofstraße (1973) teil, bei der es nicht nur auf die Gewinnung von Wohnraum ging, sondern auch gegen ein Bauvorhaben, das die Neue Heimat vorantrieb.[1]

Seit 1977 ist Hartmann als Rechtsanwalt in Hamburg und Köln tätig, in erster Linie als Strafverteidiger, auch in zahlreichen Verfahren gegen linke Aktivisten und darüber hinaus in der Vertretung der Nebenklage in NS-Kriegsverbrecherprozessen, so in den Verfahren gegen Kurt Lischka, Ernst Heinrichsohn und Herbert Hagen vor dem Landgericht Köln 1979, gegen Heinrich Boere vor dem Landgericht Aachen 2007 und gegen Siert Bruins vor dem Landgericht Hagen 2013.[2][3][4]

Hartmann arbeitete mit Mitgliedern der Proletarischen Front (PF) zusammen, einer Gruppierung aus dem operaistisch eingestellten „wir-wollen-alles“-Verbund.[1]

Durch den Strafprozess gegen Roland Otto und Karl Heinz Roth, den Hartmann verteidigte, zog er nach Köln.[5] Dort besetzte er mit den Mitgliedern der sozialrevolutionär orientierten „sozialistischen Selbsthilfe Köln“ (SSK) in der Ehrenfelder Marienstraße eine Anzahl von Häusern als Beginn eines sozialrevolutionären Projekts. Hieraus folgten nicht nur weitere Besetzungen, sondern auch Aktivitäten auf vielen anderen Gebieten: Gegen die Ausländerpolitik, Atompolitik, Militarisierung, NS-Erinnerungs- und „Bewältigungspolitik“ (Teilnahme an der Kampagne für die Edelweißpiraten), vor allem aber gegen die Politik der Stadtsanierung und Vertreibung (Marienstraßenbesetzung, dann Gruppe Wohnraum für alle) sowie gegen die noch stark nazistisch geprägte Rheinische Psychiatrie.[6] Begleitet wurden diese Aktivitäten von der Mitarbeit Hartmanns in der Zeitschrift Autonomie[7] und, mit sozialrevolutionärer Orientierung, im Folgeprojekt, den „Materialien für einen neuen Antiimperialismus“ (Materialien).[8][9] An diese Zeit schlossen sich weitere Aktivitäten Hartmanns gegen die Ausländer- und Vertreibungspolitik (Gruppe Grenzen auf), gegen Hartz IV (Gruppe Zahltag), gegen den neuen Militarismus (Gruppe Bundeswehr wegtreten),[10] Kampagne gegen SFB 700 an, die bis in die heutige Zeit reichen.

Tagesmedial und journalistisch positioniert Hartmann sich etwa in junge Welt[11] und im WDR 5[12].

Theorie
Hartmanns methodisch-philosophischer Ansatz weist als den wesentlichen Ort der Erkenntnis den Kampf aus. Genauer: die Auseinandersetzungen der sozialrevolutionären Prozesse mit den kapitalistischen Innovationsoffensiven. Er begreift ihn damit als umfassender, als die bürgerlichen Ansätze zumindest der Humanities es sein könnten. Denn Wissenschaft, Methodik, Philosophie seien nicht nur Ausprägungen der Offensiven und ihre wissenschaftlichen Akteure Teil ihres Dispositivs. Als in der Offensive wirkende und befangene Größen blieben sie damit auch systemisch blind für die ganze Wirklichkeit.[13][14][15] Denn die Subjekte und Subjektivität ihres sozialrevolutionären Gegenüber müssten ihnen notgedrungen entgehen. Er entwickelt dies detailliert an zwei Beispielen. Einmal den progressistischen wissenschaftlichen Avantgarden der fordistisch/tayloristischen Offensive aus Ökonomie, Ingenieurwissenschaft, Philosophie und formaler Logik und ihren wissenschaftlichen Produkten.[16] Des Weiteren an denjenigen, die sich mit der IT-Offensive auf dem Feld der Technologie, Ökonomie, der narrativen Steuerung und ihrer philosophischen Ausprägung im „neuen Realismus“ geschichtsmächtig zu machen suchen.[17] Damit fasst er die sozialrevolutionären Kämpfe als den umfassenderen generativen Ort des wirklichen Wissens, des Wissens von den wirkenden historischen Kräften, der gegnerischen und der eigenen. Gerade ihre aus der Praxis der Kämpfe gewonnene Perspektive erlaube erst einen Blick von außen auf die Wissenschaften und Wissenschaftler der Innovationsoffensive. Dies mache auch erfahrbar, warum Praxis logisch reicher ist als Theorie, eine bis in die griechische Philosophie zurückgehende Erkenntnis. Was Marx betrifft, so bezieht er sich dabei zurück auf die frühen Schriften vor dessen methodologischem Absturz in den ökonomischen Objektivismus.[18]"

https://de.wikipedia.org/wiki/Detlef_Hartmann

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Das der Marxismus wahr ist gilt hier als Default-Position, die ihrerseits nicht begründungsbedürftig ist, wenn ich recht sehe?

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Nö. In einem seiner Hauptwerke, "Leben als Sabotage. Zur Krise der technologischen Gewalt" hat Hartmann ein eigenes Kapitel: "Warum Marx kein Marxist war und kein Leninist geworden wäre."

Hartmann vertritt einen mitunter als Vitalismus bezeichneten Antagonismus Mensch - Maschine, Subjektivität - Entfremdung, die lebendige Arbeit - der tote Sachwert, das persönliche Bedürfnis - Entfremdung.

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Ja Marx war kein Marxist, aber Recht hatte er trotzdem, oder?

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Angesichts der Komplexität von Marxens Theorien, die ja weltweit sehr kontrovers diskutiert wurden und werden kann ich diesen Satz nur putzig finden. Er macht genauso viel Sinn, wie die Aussage, dass Newton, Kant, Darwin oder Einstein Recht hatte. Erstmal muss zwischen dem empirischen Menschen und seinen Fehlern und Schrullen unterschieden werden und dem von ihm begründeten Theoriegebäude. Dann ist dieses ja auch höchst umfangreich. Man kann Marxens Feuerbachthesen zustimmen oder widersprechen, das sagt aber nichts darüber aus, was man von Kapital Band 3 hält. Man kann auch das Kommunistische Manifest komplett ablehnen, aber dennoch die Kritik der Politischen Ökonomie (Kapital 1-3) völlig richtig finden. Es gibt auch Kapitalisten, die das Kapital für ihr eigenes wirtschaftliches Handeln als Leitfaden betrachten.

Wer von Logik spricht kommt um Aristoteles nicht herum, wer von Ethik spricht nicht um Kant, meines Erachtens auch nicht ums Judentum, ums Christentum und um den Buddhismus, wer von Physik spricht nicht um Newton, Planck, Einstein, Bell und Hawking.

Wer sich nicht mit Marx, Psychoanalyse oder allgemeiner gesprochen analytischer Psychologie/Tiefenpsychologie und mit Volkswirtschaftslehre beschäftigt hat kann zu Geschichte und Gesellschaft eigentlich kein Urteil abgeben. Und das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate ist für das Weltwirtschaftsgeschehen und die globale Wirtschafts- und Sozialgeschichte so grundlegend und determinierend wie die Evolution fürs Tier- und Pflanzenreich.

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Man kann sehr gut ohne Hawking und Bell von Physik sprechen, auch über Ethik ohne Kant und die Weltre­ligionen, von denen Sie ja den Islam nicht aufzählten, vor allem von Logik ohne Aristo­teles. Aber ich lese einen Absatz später ja, daß Sie wohl an die Geschichte des Marxismus, der Logik, der Ethik, der Physik denken.

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Als Historiker bin ich natürlich ein historisch denkender Mensch und sehe alles in historischen Dimensionen, ja.

Mein Argumentationszusammenhang ist hier aber doch noch ein anderer. Detlef Hartmann ist ja ein Theoretiker der Klassengeschichte und der Klassenkämpfe, und wie man dem Thema ohne die Kenntnis von Marx beikommen könnte weiß ich nicht. Das ist so, wie sich mit relativistischer Physik ohne Einstein beschäftigen zu wollen.


Willy hatte gemeint, so verstand ich ihn jedenfalls, dass ich eine grundsätzliche Zustimmung zu Marxschen Position voraussetze und Marx für unhinterfragbar halte, das passt aber nicht zu der Vielfältigkeit der unterschiedlichen Marxinterpretationen. In dem oben stehenden und verlinkten Text steht ja, dass Hartmann eher am frühen Marx als am späten Marx orientieren würde. Eine mit "ja" oder "nein" zu beantwortende Frage"Hatte Marx Recht?" ist in diesem Zusammenhang völlig unsinnig.

Und, mal etwas polemisch gesagt, wer sich mit Marx, Volkswirtschaftslehre und Massenpsychlogie/Sozialpsychologie nie beschäftigt hat hat auch keine Ahnung von Gesellschaftstheorie und kann hierzu keine Aussage treffen. Das ist ja seit 2003 auf diesem Blog meine ständige Ansage an Leute, die etwas gegen Marx oder gegen Adorno vorbringen wollen, ohne diese gelesen zu haben: Die Texte zu lesen ist Voraussetzung, um über das Thema diskutieren zu können.

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Ich hatte Sie schon richtig verstanden, und werde auch nichts zu Marx und Adorno sagen. Newton, Planck und Einstein ließ ich aus, gleich­wohl man die Relativ­itäts­theorie auch ohne Einstein verstehen kann. Das ist eben der Unter­schied zu anderen Wissen­schaften, in denen Theorie Exegese meint. Oder versöhn­licher: Theorie ohne Exegese nicht möglich ist.

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"Natürlich ist dies zugleich eine Politik der Erneuerung von Patriarchat und Sexismus. Es sind vor allem männliche Avantgarden, die sich aus diesen Zerstörungsprozessen als neue Eliten herausheben, und die Politik der Frauenemanzipation stellt lediglich eine komplementäre Erschließung weiblicher Arbeitskraft dar, im Spezialistenjargon "Gender-Streamlining" genannt."
https://www.phase-zwei.org/hefte/artikel/der-neue-griff-nach-der-weltmacht-1678
Uuuurdeprimierend!
Aber 2024 wird anders, versprochen.:)

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Ja, Hartmann ist starker Tobak. Für das sowjetische Herrschaftsmodell prägte er den Begriff "Kasernenhofkommunismus"., für die westliche Entwicklungspolitik "Triage mit der Option der Vernichtung der überflüssgen Esser."

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Sozialrevolutionäre Kämpfe: Der Begriff dürfte den meisten heutigen Leutenz anachronistisch und auf die Jetztzeit bezogen absurd erscheinen, Hartmann versteht darunter aber schon jede Mikrosabotage, jedes Krankfeiern, jeden Dienst nach Vorschrift, jedes Bummeln auf der Arbeit, jeden Diebstahl am Arbeitsplatz, alles Dinge, zu denen er ermutigt und geht davon aus, dass die Gesamtheit dieser Akte, neben den echten Streiks und Revolten, das Kapital im Weltmaßstab unter Druck setze und zu immer neuen Wertschöpfungsoffensiven zwinge. Selbst der Aufbau einer Pornoindustrie wird als Kolonialisierung intimer Bedürfnisse und der Kampf dagegen nicht nur als Antisexismus, sondern auch als antikapitalistische Revolte betrachtet.

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Zur Bedeutung des Krieges im Neuen Antiimperialismus
Eine besondere Rolle spielt in der sozialrevolutionären Theorie, und besonders bei Hartmann die Funktion des Krieges als kapitalistisches Dispositiv. Kriege wie der Erste Golfkrieg 1980-88 und der Jugoslawienkrieg werden als bevölkerungspolitische Instrumente und Inwertsetzungsinstrumente im Sinne von Schumpeters schöpferischer Zerstörung analysiert.

Mit den Fluchtpunkten Krieg als negative Bevölkerungspolitik im Sinne von Vernichtung überflüssiger Esser und schöpferische Zerstörung im Sinne Zerbombung unproduktiv gewordener Industrieanlagen, um mit dem Wiederaufbauboom einen neuen Wirtschaftszyklus anzukurbeln. In diesem Kontext stellte der Vernichtungskrieg der Nazis an der Ostfront das avantgardistische Role Model für die heutigen Kriege dar.

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