Sonntag, 24. September 2006
Sweet girl
Sie ist Anfang 20, klein und sehr schön. Sie ist ganz in schwarz, trägt Landsknechtsstulpenstiefel, um den Hals ein Lederband mit zwei ineinanderfassenden Ringen, ein Totenkopfpiercing, Handschellen am Rucksack, und ihr Fahrrad sichert sie mit einer Kette, an der ein Halseisen angebracht ist, wie es Sklaven trugen. Sie gehört zur SM-Szene, und gleichzeitig ist sie bei einer Antifa-Gruppe und versteht sich als Feministin. In der moralinzerfressenen linken Szene, die ich von früher kannte, wäre eine solche Kombination unvorstellbar gewesen, für sie ist es eine Selbstverständlichkeit. Anything goes halt.

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schöne Beschreibung, the times are changing

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naja,...
...statt "anything goes" wäre hier "postmoderne beliebigkeit" vielleicht eher angebracht. derlei patchworkmenschen sind mir in der "szene" dabei bereits zu beginn der 90er begegnet, und ich kann nicht behaupten, dass ich das als positive entwicklung ansehe. es gibt imo sehr wohl einen unterschied zwischen dem, was du als "moralinzerfressen" ansiehst (ich würde es eher als aus hilflosigkeit, sicherheitsbedürfnis und nichtbegreifen gesellschaftlicher phänomene entwickeltes formelhaftes und oberflächliches konstrukt von als "korrekt" definierten verhaltenssets ansehen) und einer art von umgang, die verbindliche individuelle und kollektive sorge um einzelne ernsthaft und freundlich-bestimmt im alltäglichen leben ausdrückt. dafür braucht es aber wiederum persönliche psychophysische voraussetzungen, die in der autonomen szene i.d.r. genausowenig vorhanden sind wie in der "restgesellschaft". was ja auch kein wunder ist.

zu sm (auch im zusammenhang mit feministischen strömungen) wird´s bei mir irgendwann noch einen eigenen beitrag geben - die lust durch und an eigene(r) und fremder objektwerdung ist nicht unbedingt etwas, was ich per se als befreiend verstehen würde. und zum thema tattoos und piercing vorläufig das hier:

http://autismuskritik.twoday.net/stories/1205759/

grüße
mo

ps. weil´s zum thema irgendwie auch passt: es ist imo sehr angebracht, mal über das verhältnis zwischen (politischer) rigidität und entsprechenden abgrenzungsversuchen einerseits und der zahl von traumatisierten frauen mit (sexuellen) gewalterfahrungen andererseits in der autonomen frauenlesbenszene nachzudenken.

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ich habe auch die Szene der 90er-Jahre erlebt und mir fehlt die moralinsaure Kultur ebenfalls kein bisschen. Aber: ich denke das ändert nichts an der Notwendigkeit die Gesellschaft auch in Fragen des Patriarchats, der Homophobie und ähnlichem zu analysieren und zu kritisieren. Aber genau das wurde ja durch die moralische Regidität verhindert. Herausgekommen sind Kataloge wie sich zu verhalten ist. Also das genaue Gegenteil von Kritik. Möglicherweise liegt das an dem unmittelbaren Anspruch, an der Forderung die Szene müsse in ihrer Realität "antisexistisch" sein. Und da es keinen Begriff von Kritik gab und heute auch oft nicht gibt, blieben eben nur Regelwerke, die dann oberflächlich und repressiv durchgesetzt werden mussten.

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Göttin sei dank,dass heute keine Schwarzer-Epigoninnen versuchen, der Szene normativ vorzuschreiben, wie die ihre Sexualität zu leben haben. Che, gräbst Du jetzt Frauen an, die Deine Töchter sein könnten?

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@Monoma, es kommt immer darauf an, was man selber erlebt hat, und ich kannte einmal eine sehr libertäre und unverkrampfte linke Szene, die im Lauf der Zeit immer moralischer wurde und in der ersten Hälfte der 90er Jahre Einrichtungen wie Tribunale und Scherbengerichte kannte, die über abweichendes Verhalten von GenossInnen entschieden. Es konnte ja mancherorts schon für einen rauswurf reichen, mit einem fleischhaltigen Fastfood in der Hand ein linkes Zentrum zu betreten. Der Witz war dabei natürlich der, dass Diejenigen, die in der imaginären Hierarchie der Szene oben standen (glücklicherweise gehörte ich für einen längeren Zeitraum dazu) davon unberührt blieben. Adornos Elemente des autoritären Charakters fanden sich auch in der linken Szene.

vgl.hier: http://che2001.blogger.de/stories/415434/


Deine Überlegungen zum Thema Tattoos und Piercings finde ich sehr interessant (zumal ich Träger eines "geheimbündlerischen" Tattoos bin), möchte aber davor warnen, dies zu sehr psychoanalytisch-tiefschürfend anzugehen, manchmal können Wahrheiten auch ganz banal sein.

Zum Thema SM würde ich sagen, dass dieser weder per se emanzipationsfeindlich noch unproblematisch ist, es kommt hier immer sehr auf die individuelle Ausprägung an. Ich kenne diese Frau aber viel zu wenig, um das bei ihr beurteilen zu können. Grundsätzlich finde ich, dass schrille, bizarre, bunte Menschen die Welt tendenziell eher bereichern, auch wenn sich das jetzt oberflächlich anhören mag.

Zu "sehr angebracht, mal über das verhältnis zwischen (politischer) rigidität und entsprechenden abgrenzungsversuchen einerseits und der zahl von traumatisierten frauen mit (sexuellen) gewalterfahrungen andererseits in der autonomen frauenlesbenszene nachzudenken." Das ist ebenso ein weites Feld wie ein heißes Eisen und wäre eine völlig eigenständige Diskussion wert, die ich mit dieser flüchtigen Samstagsnachmittags-Bekanntschaft auf keinen fall vermischen möchte.

@netbitch: Keine Sorge, das war, wie eben gesagt, nur eine sehr flüchtige Begegnung. Dem anderen Teil Deines Kommentars stimme ich zu.

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versucht da zur zeit eben nicht einer von der cdu in leitkultur zu machen? da fragt sich doch, wer der unzeitgemäße ist.

und erhält die antwort, dass jeder lebensentwurf für sich vernünftig und zeitgemäß ist.

es ist sogar vernünftig, die polemik dahin zu treiben, so zu tun, als gäbe es für alle verbindliche entwürfe.

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Frage
@ auch-einer

Sorry wenn es doof klingt, aber was ist ein "Lebensentwurf" genau ? Das Ding wieselwortet mir ein wenig.

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*lol*

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Lebensentwurf
ist die der Lebenspraxis zugrunde liegende Gestaltungsidee. Lässt sich mittels qualitativer Verfahren rekonstruieren. Im Prinzip das, was Sie hier mit dem o.g. Fallbeispiel mehr oder weniger holprig durchführen.

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Der Grosse Wurf im Leben des ...
@ supatyp

Hey, das ist ja Politikverdächtig !

Im Ernst - was genau wollten Sie damit ausdrücken ?

Der "Lebenspraxis" - d.h. allen individuellen Mode- und dasfindichdoll-Strömungen unterworfen ? Also zu neudeutsch "everything goes, whaddaya care ?" Und das ist alles "gleich" ? Dolle Sache. Werden die Glatzen vor dem Werwolfladen auch gerne hören.

Was sind diese ominösen "qualitativen Verfahren" genau ?

Gestatten Sie das ich nun unter dem Eindruck stehe dass auch Sie eine ähnlich gefestigte Meinung zu dem Inhalt des Begriffes "Lebensentwurf" haben wie ich auch, es aber mit mehr und schöneren Wörtern auszudrücken verstehen.

Galloppierender Avrillavignismus als ein möglicher "Lebensentwurf" für D im Jahre des Herrn 2006. Schöne Sache.

Oder will der Experte uns damit sagen dass der "Lebensentwurf" das derzeit modische Wort für das jeweils individuell zeitpunktig-kommode Mäntelchen geflickschustert aus zeitgeistig-modischen Begehrlichkeiten, Meinungen (gern auch haltlos), Gruppenzwängen etc ist ?

H&M rules. Auch in den Köpfen.

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Wahrscheinlich will er damit sagen, dass der Madonna-like Schlampenlook (dem ich auch zuweilen fröne) punkmäßig zugespitzt und sadomasochistisch überdehnt nun in geradezu abelardscher Transzendierung des metasexuellen eine hermeneutische Sinnbestimmung erfährt, die im Rahmen einer Fundamentalontologie des Wesens vom Sein die Geworfenheit aller menschlichen Existenz mitten ins Leben auch den letzten Spießern und größten Freaks nahebringt.


Also das Gleiche, was Du sagtest.
Irgendwie.

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@ die nette bitch

Es geht doch nichts über ein paar klärende Worte .-)

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lebemann,

ich gestehe.
alles.
wieselworte umwieseln mich wieselflink, umspringen, umhüpfen mich und eben hat eines auch noch sauerei gemacht.

andererseits, lebensentwurf scheint mir ein nicht unpassendes wort dafür zu sein, dass jemand sein leben eben so lebt wie er es leben will, ganz ungeachtet dessen, dass andere in der hinsicht vielleicht andere vorstellungen haben.

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@ auch-einer

Na dann ist ja alles gut: Mutter Theresa, der Janjaweed und sein Opfer, der Stasi-Scherge und sein Dissident, sie alle liegen einander gemeinsam mit der NPD-Glatze und dem tantrischen Flieger in den Armen. Sie alle eint eines: der Lebensentwurf.

Das treudeutsche Sittenbild, anno 2006. Und alles, alles ist gut.

Schnüff, das ich das noch erleben durfte...

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re lebemann:

gar nix ist gut, und da liegen sich auch keine in den armen:

die mutter teresa tröstet die kranken mit dem lieben gott, die gespendeten medikamente sind, da abgelaufen, wenn nicht wirkungslos dann schädlich, ihre freiwilligen haben keine ahnung von krankenpflege und die ganzen spenden gehen an die vatikanbank.

der dschandschawid (erst dachte ich, das sei einer, der ganja raucht, aber wikipedia hat mir geholfen) ist da noch einen schritt weiter, der mordet zu gottes höherem ruhm wehrlose opfer, weil, so doof ist der nicht, sich mit stärkeren anzulegen.

der stasi-scherge (oder alte tschekisten, wie ich die vom schwert und schild der partei gern nenne) ist schon wieder wo anders: der ist den schritt vom täter zum opfer gegangen, heult wie schön doch die ddr war und welch schreiendes unrecht ihm widerfährt: weil nämlich seine opfer die eigentlichen täter sind. sagte einer vor jahren einmal in einer wahlveranstaltung zum thema mauermörder: die opfer haben es doch gut, die sind tot. da war keiner, weder auf dem podium noch im publikum, der darauf antwortete, das kann man sich aber richten, tschekist.

die npd-glatze als zeitgemäße umsetzung des alten macht kaputt was euch kaputt macht hat das geile gefühl, das man eben hat, wenn man einen anderen zusammengeschlagen hat. dazu braucht er den antifa genauso wie die antifa den nazi braucht. übrigens war das schon ´33 die braune taktik, die nsdap als bändigung der sa zu verkaufen. scheint immer noch zu funktionieren, denn hinter den glatzen stehen die mit den scheiteln, die über die npd karriere machen wollen.

der tantrische flieger - gibts den noch? weissgott, der eine, welcher da anlass für die gründung der titanic war, der macht weiter in realsatire: mal nach fairness-stiftung googeln, der nikel´sche lebensentwurf ist da schon was besonderes.

nein, alles geht, wie das feyerabend postulierte. habermas, auch nicht faul, entdeckte die neue unübersichtlichkeit und zog sich so brilliant aus der affäre.

und, na ja, der anlass von dem allen: die shell-jugendstudie meint, die jugend wolle eine neue bürgerlichkeit, und die landesbausparkassen springen auch mit drauf und verkaufen den bausparer als den beginn der neuen spiessigkeit. aber, che sei dank für sien schilderung, es sind eben nicht alle so.

und deswegen ist das mit der leitkultur auch mumpitz, und wenn auch nicht alles gut ist, dieses eine da schon.

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Übrigens, in Sachsen gibt es eine Jugendzeitschrift, die sich allen Ernstes der "Spießer" nennt und Gartenzwerge kultet.

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che,
danke für den hinweis.

werde ich mal genauer anschauen, was das eigentlich ist.

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Ich habe übrigens Teile der Shell-Studie gelesen, und das ist doch etwas differenzierter zu sehen. Eher in dem Sinne: Die Jugend ist leistungsorientierter und zugleich hedonistischer als früher, hat eher den eigenen Wunsch nach Kindern UND Zukunftsangst UND Achtung für die Älteren. Das ist nicht alles glatt bürgerlich und spießig, es ist eher so, dass die Möglichkeiten eher zu einem Paket geschnürt werden als dies-oder-das.

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Interessant, ohne die Kommentare hatte ich überhaupt nicht verstanden, was denn das Problem sein soll. Bin ich froh, dass ich nur mit solchen Mädchen und nie mit solchen Szenen zu tun hatte.

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Ja, da bist Du wohl gut dran! :-)

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Mal etwas Historie
Gut erinnere ich mich noch an die erste nasengepiercte Frau, die mir über den Weg lief, das war eine Waffenhändlerin. Damals war ein Nasenpiercing untrügliches In-Zeichen der Koks-User, heutzutage trägt das jede Friseurin oder Arzthelferin. Wer in den 70er Jahren in den Dschungel gegangen ist und käme heute wieder würde sich schon sehr wundern. Trotzdem, auch bei der Bedeutung von Piercing als tribaler Initiationsritus sehe ich diesen Archaismus noch nicht zwangsläufig als etwas Negatives; die Brücke zu Dingen wie Frauenbeschneidung und anderen Verstümmlungen muss nicht zwingend geschlagen werden. Was Anderes erscheint mir in diesem Zusammenhang interessant. In weiten Bereichen der Szene, die so in den 70ern/frühen 80ern hip war, nicht nur bei Linken, galt eine promiskuitive Sexualität mit häufigem PartnerInnenwechsel, offenen Beziehungen und erlaubten Seitensprüngen durchaus als etwas Positives und mit emanzipatorischen Vorstellungen zumindest partiell vereinbar, wenn nicht sogar verbunden. Ich habe dies auch positiv erlebt. Als bei uns ein Bewusstsein zur Aidsproblematik entstand - bis 1982 galt das ja als exotische New Yorker Schwulenkrankheit - kamen "alte Laster" wie BDSM und Fetischismus relativ schnell in Mode. Wie, wenn dies zunächst eine Reaktion von Menschen war, die auf eine ausschweifende, wilde Art, ihre Sexualität zu leben nicht verzichten wollten, aber damit konfrontiert waren, dass ihre gewohnte Promiskuität plötzlich lebensgefährlich war, also eher eine Art Ausweichen auf eine neue Spielwiese? In der zeitlichen Abfolge kam dann zunächst die Debatte über Vergewaltigungen in der linken Szene und dann die von Alice Schwarzer und Ingrid Strobl mit abweichenden Intentionen getragene PorNo-Kampagne, kurz darauf die Debatte um "Neue Sinnlichkeit" mit der ästhetischen Inszenierung von BDSM, Fetischismus, aber auch New Romantic und sublimierter Nekrophilie (Gruftietum) in Verbindung mit dem Yuppietum als Zeitgeistbewegung, damals mit George Bataille und dem eigentlich sehr schwierigen, damals aber als Popautor gelesenen Philosophen Jean Baudrillard als Modeliteratur. Im "Wiener" wurde die Ästhetisierung von SM-Lesbentum als Gegenschlag gegen Schwarzer gefeiert, es steht also zu vermuten, dass es wirklich einen Zusammenhang zwischen Backlash in den Geschlechterbeziehungen, Yuppietum als soziokulturelle Bewegung und Neoliberalismus gibt.

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Überhaupt: Als Tattoos und Piercings sich in unserer Gesellschaft stärker verbreiteten, also in den 80ern und 90ern, drückten sie zumeist immer noch die Abgrenzung zur Normalo-Gesellschaft und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Szene aus, ob das nun Biker, Punks, Bewegungslesben, Autonome, Kampfsportler oder die SM-Fetisch-oder Gothicszene waren. Heutzutage hat man ja den Eindruck, es gibt fast keine Frauen zwischen 20 und 30 mehr, die weder tätowiert noch gepierct sind, und bei Männern zumindest jeder vierte. Ich weiß, das ist übertrieben, aber halt so die Streetlife-Wahrnehmung. Und dann stellt sich halt die Frage: Drückt der Körperschmuck heute noch irgendetwas aus?

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