Samstag, 30. September 2006
Der Weg nach Hause
Dies ist mein Beitrag für den deutsch-amerikanischen Blog Carnival, zu dem mich Karsten Dürotin eingeladen hat. Es ist die Geschichte meines Vaters, ergänzt um eigene Betrachtungen. Also, zunächst mein Vater:


"Dichtes Schneetreiben hüllte uns ein auf dem Weg in unser neues, noch unbekanntes Quartier. Ein Windstoß gab für einen kurzen Augenblick eine Szene frei, die mich an ein Bild aus einer Darstellung des Krieges von Napoleon gegen Russland erinnerte. Es zeigte einen verlorenen Haufen Soldaten, die auf der Flucht waren und die Beresina überqueren wollten. Hier waren es Volkssturmangehörige mit langen alten Gewehren und Mänteln, in die ihre Väter hineingepasst hätten. Sie waren nicht älter als 15 Jahre, wie auch wir, mit Ausnahme eines Anführers. Diese kurze Szene machte mir die aussichtslose Situation klar, in der auch wir uns befanden, damals im März 1945. Schon seit Wochen hatte ich den Entschluss gefasst, alles, aber auch alles zu versuchen, mich nicht zu opfern für eine Sache, die längst verloren war. Und doch kamen mir Zweifel, ob es Rechtens war, alle Ideale so einfach über Bord zu werfen, die sich über Jahre entwickelt und gefestigt hatten, und so strebten wir unsere neue Unterkunft an, die in der Nähe von Oderbrück im Harz lag, aber nur Zwischenstation sein sollte für einen Einsatz hinter den amerikanischen Linien. Das Gespenstische an der Situation war, dass niemand sich darüber äußerte, wie er unsere Lage einschätzte. Aus heutiger Sicht war das auch nicht zu erwarten, denn die Einheit bestand aus etwa 120 Jungvolk-Führern aus Niedersachsen, die sich, abgesehen von wenigen Ausnahmen, untereinander kaum kannten. Die nächsten Tage waren ausgefüllt mit der Quartiernahme, der Einkleidung, dem Empfang der Ausrüstung und der Zusammenstellung der einzelnen Gruppen. Unsere Hütten dienten bislang dem Skisport und waren einfach ausgestattet mit Bettgestellen und Brettern als Liegefläche. Bettzeug gab es nicht, wohl aber besaß jeder einen Schlafsack. Ich hatte Glück und erwischte einen gut gefütterten Bergsack. So waren wir gegen Kälte gut geschützt, denn Öfen durften nicht befeuert werden, wegen der Rauchentwicklung. Zunächst war die Verpflegung noch erträglich, die durch einen LKW der Wehrmacht angeliefert wurde. Im Laufe der Zeit wurden die Rationen immer einfacher und bestanden nur noch aus Brot, Dosenwurst und Quellwasser. In den letzten 14 Tagen bekamen wir nur noch Kartoffelflocken und Wasser aus der nahen Quelle. Wir waren jung, Entbehrungen gewohnt und deshalb fanden wir die Situation nicht besonders bedrohlich. Was mich störte war die Unsicherheit unserer Lage, da wir kaum Informationen über den Stand der Frontlinien hatten. Beim letzten Erscheinen des LKWs erfuhren wir, dass Hannover, Braunschweig und Göttingen gefallen waren.Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse nahm die Sorge um meine Angehörigen natürlich zu und somit auch eine gewisse Verzweiflung. Trotz allem war keine völlige Apathie festzustellen. Wir fragten uns schon, warum die vielen Opfer dieses Krieges gebracht würden, wenn nun doch alles vergebens gewesen sein sollte. Wir waren seit frühester Kindheit darauf vorbereitet worden, unser Land und unsere Welt besser und gerechter zu machen und notfalls zu verteidigen. So stritten mehrere Herzen in unserer Brust. Sollten alle Werte, wie wir sie damals verinnerlicht hatten, verloren gehen?

Wir versahen unseren Wachdienst am Tag und in den Nächten, die hier oben noch immer recht kalt waren. Eines Nachts wurde zum Alarm gerufen, so laut es möglich war. Alle Beteiligten hatten Aufstellung genommen, als uns erklärt wurde, dass „Sherman“-Panzer die deutschen Linien durchbrochen hätten und auf dem Vormarsch waren. Wir mussten einen Stoßtrupp bilden, mit Panzerfäusten ausgerüstet, um diesen Durchbruch zu stoppen. Es erging der Aufruf: „Wer ist bereit, für Führer und Vaterland zu sterben? – Der trete drei Schritte vor!“ 120 Pimpfe folgten wie ein Mann und traten diese drei Schritte nach vorn, wohl wissend, welche Konsequenz damit verbunden war. Aus der Sicht von heute mag das nach falsch verstandenem Heldentum klingen. Damals aber war es selbstverständlich und entsprach unserer Geisteshaltung. In dem Film „Trenck der Pandur“ hatte ich als Kind eine solche Szene bewundert, die aber mit der Wirklichkeit von 1945 nicht das Geringste zu tun hatte. Ich schreibe das heute, um zu zeigen, wie sehr wir damals verführt und manipuliert worden sind. Der Einsatz, zu dem wir uns bereiterklärt hatten, wurde übrigens abgeblasen. Wer den Befehl dazu gegeben hatte, ist mir unbekannt, entspricht aber der Taktik und Strategie unserer damaligen Führer, wie ich vermute. Es waren SS- und hohe HJ-Führer. Diese Leute wussten offenbar, worauf es jetzt ankam.

Ich war erleichtert, dass ich nicht zu diesem Einsatz ausgewählt wurde, bin aber sicher, dass ich keinen Augenblick gezögert hätte, den Befehlen zu folgen. Trotz aller Bedenken: Unsere Freunde konnten die Alliierten nicht sein. Wer wie sie unsere Städte vernichtet hatte mit Frauen, Kindern und alten Leuten in den Kellern, ohne Rücksicht und oft genug auch ohne jeden Sinn, konnte nicht als Friedensbringer gelten. Diese Meinung hat sich übrigens bis heute nicht geändert. Der Krieg zeigte wieder einmal seine hässliche Fratze. Dieses Mal aber war der Teufel mit seinen Spießgesellen wohl auf die Erde gekommen, um mit Feuer, Schwefel und Tod entsetzliches Leid über die Menschheit zu bringen.

- Der übliche Trott setzte sich fort, bis eines Tages Einzelgespräche stattfanden.
Wir wurden aufgefordert, unsere HJ-Uniformen herauszusuchen und unsere Tarnanzüge abzulegen. Ebenfalls sollten wir unsere Pistolen abgeben, die außer Panzerfäusten unsere einzigen Waffen waren. Danach sollten jeden Tag zwei oder drei Mann jeweils nach Norden, Osten, Süden und Westen den Harz verlassen. Zuvor bekamen wir noch Pässe der SS-Division Wiking, um uns davor zu schützen, dass wir als „Wehrwölfe“ identifiziert werden konnten, die wir ja waren. An jenem Morgen, am 20 April brachen wir zu dritt in Richtung Norden auf. Meine Begleiter gehörten zu meinen Freunden, die ich inzwischen gefunden hatte. Alle kamen aus dem Raum Braunschweig. Man hatte uns noch auf den Weg mitgegeben, dass wir uns später im Raum Soltau treffen sollten, da dort noch eine Einheit der Wiking stand.


Ausdrücklich wurde uns aber gestattet, zunächst zuhause vorbeizuschauen. Es war klar, warum diese Offiziere so handeln mussten: Sollte etwas schief gehen, hätte man sie zur Verantwortung gezogen, so mussten sie sich für unsere de facto Demobilisierung eine Hintertür offen halten.

Wir zogen an einem herrlichen Frühlingsmorgen los, waren natürlich unsicher, was uns erwarten würde. Für mich war aber völlig überraschend, wie frei ich mich plötzlich fühlte, so als ob eine schwere Last von mir abgefallen sei. Der wunderbar einsame Weg durch den Wald trug sicher dazu bei, aber auch die Gewissheit, dass wir einem unsinnigen und gefährlichen Einsatz entgangen waren. So folgten wir einem Weg, der sich an der Ilse entlangschlängelte. Als der Wald sich lichtete und wir hofften, ohne Feindberührung entkommen zu sein, sahen wir vor uns Soldaten der Deutschen Wehrmacht mit über dem Kopf gekreuzten Händen. Sie wurden bewacht von US-Soldaten. Ohne erkennbare Angst, die wir natürlich hatten, gingen wir unseres Weges, bis wir von einem amerikanischen Offizier gestoppt wurden. Es war ein gutaussehender gepflegter Mann mit gekräuselten Haaren und dunklem Teint. Er sprach, wie sich sogleich zeigte, ein perfektes Deutsch. So also sah der erste unserer Feinde aus, den wir zu Gesicht bekamen.

„Hallo, wo kommt Ihr denn her?“ – Wir wurden wohl schon länger beobachtet, ohne dass wir es bemerkt hätten. Unsere Antwort war abgesprochen und lautete: „Wir kommen aus einem Skilager.“ Unsere Dokumente wurden verlangt, und wir zeigten unsere HJ-Ausweise, die wir vernünftiger Weise behalten hatten. Die neuen Ausweise ließen wir stecken. Abgesondert von den deutschen Landsern wurden wir in eine leere große Halle am Rande von Ilsenburg gesperrt. Es war schon eine bedrohliche Lage, denn wir wussten ja nicht, wie unsere Aussagen bewertet wurden, wir waren deprimiert, aber nicht ohne Hoffnung. Gefährliches konnte bei unserem heruntergekommenen Aussehen ja nicht von uns ausgehen.

Zwei bis drei Stunden verbrachten wir in dieser Riesenhalle, in der wir uns verloren vorkamen. Dann wurde eine Tür geöffnet und der Ami winkte uns zu sich. Er ging voraus bis zum Ausgang des Geländes und blieb dann stehen. „Wer Ihr seid, wissen wir genau, denn unsere Informationen sind ausreichend. Ich habe mich entschieden, Euch laufen zu lassen. Für Nazis habe ich nichts übrig. Ihr sollt wissen, dass ich amerikanischer Jude bin. Mehr brauche ich wohl nicht zu sagen. Nun geht auf dieser Straße bis zur Reichhstraße, dann könnt Ihr die Stadt nicht verfehlen. Macht Euch auf den Weg und seht zu, dass Ihr zu Euren Müttern kommt. – Wohl wahr, dieser Mann hatte den Durchblick.

Unglaublich erleichtert, aber auch beschämt zogen wir von dannen, gelassen und frohen Mutes.

Kurz bevor wir die B4 erreichten, kamen uns amerikanische Panzer und LKW entgegen. Sie hüllten uns in Wolken von Staub ein, der uns das Atmen schwer machte. Plötzlich wurden Zigaretten und Schokolade aus Fahrzeugen geworfen. Das war die zweite Begegnung mit unseren Feinden. Mit unseren abgelaufenen Schuhen haben wir Schokolade und Zigaretten zertreten, obwohl wir Hunger hatten und ich nur noch eine kleine Dose Corned Beef als eiserne Reserve bei mir hatte.
Dieser Irrsinn ist aus heutiger Sicht nicht zu verstehen. Ich versuche es auch nicht. – Was glaubten diese gerade noch entronnenen, heruntergekommenen Pimpfe noch beweisen zu müssen?!

5 Jahre politische Erziehung oder besser gesagt Indoktrination ließen sich doch nicht einfach so abstreifen, gerade so als ob man sein braunes Hemd auszieht und durch ein unbeflecktes ersetzt. Noch lange hatte ich an diesen Dingen zu kauen.

Am zweiten Tag erreichten wir die Stadt. Von nun an ging jeder seinen Weg. Auf diesen Kilometern ließ ich rechts und links des Weges meine Träume, Illusionen, Hoffnungen und Ideale zurück. Meine kindliche Unbefangenheit hatte ich längst verloren, schon vor langer Zeit! Wir hatten die Freiheit gewonnen. Unsere Unschuld hatten wir verloren! Der Weg ging nun nachhause. Nur noch geradeaus.

Epilog

Hier wäre noch Platz für viele Worte der Erklärung und Reflektion sowie gute Vorsätze für die Zukunft. Susan Sonntag konnte es jedoch viel kürzer und klarer ausdrücken, als es mir möglich wäre.

Menschen sind imstande, dies hier anderen anzutun – vielleicht sogar freiwillig, begeistert, selbstgerecht. Vergesst das nicht!"


- Diese Geschichte kannte ich von klein auf, spätestens seit ich 10 war, und mein Vater hatte mir immer eindringlich klar gemacht, dass er wahrscheinlich einem amerikanischen Juden sein Leben zu verdanken hatte. Mein Vater vertritt zwar teilweise Standpunkte, die man als antiiamerikanisch bezeichnen könnte (das hat was mit kulturellen Dingen zu tun, er hasst die Popkultur, Coca Cola und alle neuere Musik und denkt in Begriffen des traditionellen Abendlands), schärfte mir aber seit der Kindheit ein, dass die US-Amerikaner uns vom Schlimmsten befreit haben, was es überhaupt gab, dem Nationalsozialismus. Ich selbst erlebte diese Dinge nicht ganz spannungsfrei: Zu meinen frühesten bewussten Erinnerungen gehören grausame Bilder aus dem Vietnamkrieg, etwa, wie GIs einem Vietcong den Bauch aufschneiden, um ihn zum Reden zu bringen, ebenso wie der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Streitkräfte in die CSSR. Ich habe die Befreier der Anti-Hitler-Koalition als Mächte wahrgenommen, die zu späteren Zeitpunkten selber als repressiv und freiheitsfeindlich nach außen auftraten. Im Gegensatz zu vielen meiner Freunde/innen bin ich nicht an der Uni oder auf dem Gymnasium "politisiert" worden, sondern sah Politik als Bestandteil meines Lebens an, seit ich überhaupt differenziert denken kann. Ich erlebte mit 4 meine erste Demo, in der Grundschule passierte es schon mal, dass wir nicht nach Hause gehen konnten, weil vor der Schule gerade eine Straßenschlacht zwischen Studierenden und der Polizei tobte. Meine Sozialisation in eine linke Szene hinein spielte sich vor diesem Hintergrund sehr selbstverständlich und quasi naturwüchsig ab; für mein Verhältnis zu den USA heißt das, dass meine Bezugspersonen dort Linke, Friedensbewegte, AktivistInnen ethnischer Minderheiten und HistorikerInnen sind.
Der pauschale Anti-Amerikanismus mancher Linker ist mir von daher ebenso fremd wie die Heroisierung der USA durch Antideutsche oder Neocon-Freunde.


Auf der einen Seite gibt es hierzulande verbreitet die albernsten Klischees über die USA, etwa die Gleichsetzung von US-BürgerInnen mit der weißen Oberschichtsbevölkerung von Texas oder platter "Cowboys und Rambos".


Auf der anderen Seite sind die US-AmerikanerInnen, die ich kennenlernen durfte, überwiegend der Typ "Berkeley-Intellektuelle" oder "straight niggas with attitude" -der größte denkbare Gegensatz. Nie vergessen werde ich aber: Ohne einen gütigen jüdischen Major der US-Army wäre ich vielleicht nie geboren worden.

Eingereicht beim Karneval zu den deutsch-amerikanischen Beziehungen:

http://atlanticreview.org/

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Nachsatz: Ich wundere mich sehr, dass es hierzu keinerlei Kommentare gibt. Woran liegt das?

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Der Sieg der Allierten wurde in Deutschland gewiss sehr unterschiedlich erlebt und wir konnten wohl von Glück sagen, dass die meisten der von Deutschland überfallenen Nationen nicht ebenfalls mit Truppen beteiligt waren. Wer wie das russische Volk schlimmste Entbehrungen und Repressalien zu erdulden hatte, verteilt hinterher eben keine Bonbons. Meine Vorfahren gehörten zu jenen Deutschen, die Katharina II. die Grosse an die Wolga holte, sie erhielten dort Rechte und Freiheiten, von denen sie wohl selbst in Deutschland kaum zu träumen wagten. Mein Urahn wurde auf einen Schlag Grossgrundbesitzer, Bürgermeister, Richter, Amtmann, weil er eben der einzige war, der lesen und schreiben konnte. Sein Sohn hielt es für eine Ehrensache, sich für die Garde in St.Petersburg zu melden. Was meinen Vorfahren im zweiten Weltkrieg widerfuhr, wurde mir nie erzählt, hier setzt die Geschichte aus, sie beginnt erst wieder mit deren Ankunft 1945 in Kiel. Überlebt hatten fast nur die Frauen.-

Russen und Deutsche sind sich eigentlich näher und ähnlicher als Deutsche und Amerikaner oder auch Deutsche und Franzosen. Trotz allem und wegen allem.

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