Mittwoch, 12. September 2012
Congratulations!
Herzlichen Glückwunsch an Judith Butler für den Adorno-Preis! Ich meine, dass sie ihn wirklich verdient hat.

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Wie schätzt du denn ihre Äußerungen zu Hammas und Hisbollah ein?

"Yes, understanding Hamas, Hezbollah as social movements that are progressive, that are on the Left, that are part of a global Left, is extremely important. ... That does not stop us from being critical of certain dimensions of both movements."

Abgesehen davon hat sie den Preis wirklich verdient, finde ich auch. Sie schreibt genauso schlecht und verworren wie Adorno.

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Nur was sie nicht erst zu verstehen brauchen, gilt ihnen als verständlich. Da gibst Du gerade ein Paradebeispiel ab.


Was das Andere angeht, nun, das ist klassischer Antiimperialismus alten Stils, wie er für die radikale Linke außerhalb Deutschlands eher typisch ist. Ich finde diese Haltung allerdings grundfalsch und folge Butler darin nicht. Insbesondere die Hamas wurde mal aufgebaut um der PFLP und DFLP die Basis abzugraben, mit großem Erfolg. Wie völlig verpeilt radikale Linke zum Teil dem Islamismus gegenüberstehen, das zeigt das Kapitel "Der Schiiten-Sozialismus der Khomeinisten" in Autonomie Neue Folge 1. Nur ist das 30 Jahre her. Butler müsste es besser wissen.

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Wieso sollte sie es besser wissen? Ich denke zwar, dass ihr Standpunkt nochmals ein anderer ist - aber folgen kann ich dem nicht. Andererseits beschreibt sie sehr schön, wie ihr Einstehen für die Schwächeren, wie ihr Streben nach "Vervollkommnung der Welt" bzw. ihr Verständnis von Jüdischkeit ein Antriebsmotor für sie darstellt, sich (imho sehr einseitig und blauäugig) auf die Seite der Palästinenser zu stellen. Das andere ist, so leicht ihr bei der Analyse von Hamas auch Blauäugigkeit und mangelndes Expertenwissen vorzuwerfen ist:

Dieser Vorwurf fällt auf die meisten Kritiker von Butler zurück. Denn tatsächlich ist die Hamas ein etwas komplexeres Problem, und innerhalb der Hamas gibt es auch verschiedene Richtungen, darunter wohl auch solche, die sich in sozialen Belangen auch als "links" verstehen lassen.

Wie gesagt, ich teile ihre Ansichten nicht und finde sie, wie auch in anderen ihrer Themenfelder ausgesprochen vereinseitigt und überspitzt. Aber es zeugt immerhin von einem gewissen intellektuellen Mut, die Dinge anders als gewohnt zu betrachten. Und der Möglichkeit des Irrtums: sind auch diejenigen ausgesetzt, welche ihr am liebsten den Preis aberkennen möchten.

Auf mich wirkt die aufgeregte Debatte im dt. Fäuleton wie immer überflüssig wichtigtuerisch, nicht sonderlich informiert, ja sogar grobschlächtig, und der Eindruck kommt auf, dass sich da einige Leute an Butler generell reiben (ich denke v.a. wegen des Nichtverständnisses und der Überforderung beim Lesen von Butlers Texten, vielleicht auch ein wenig wegen der mitunter zutiefst arroganten Attitüden, die Frau Butler drauf hat) und es diesen umso gelegener kommt, wenn sie eilfertig die Antisemitismuskarte in die Hand nehmen können.

Quasi: Ein Racheakt. Ob ich persönlich eine besondere inhaltliche Nähe von Butler zur Frankfurter Schule sehe, frage man mich aber bitte nicht.

Ich bin da auch schlicht überfragt.

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ähhh...verstehen?
Wie verstehst du denn einen Text wie diesen:

""The move from a structuralist account in which capital is understood to structure social relations in relatively homologous ways to a view of hegemony in which power relations are subject to repetition, convergence, and rearticulation brought the question of temporality into the thinking of structure, and marked a shift from a form of Althusserian theory that takes structural totalities as theoretical objects to one in which the insights into the contingent possibility of structure inaugurate a renewed conception of hegemony as bound up with the contingent sites and strategies of the rearticulation of power."

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Zu Adorno finde ich dies sehr gut:

Das postponierte Reflexivum

“Um die verzweifelte Stimmung, welche die “Frankfurter Schule” um das Jahr 1933 herum befallen hatte, etwas aufzulockern, veranstaltete Max Horkheimer eines schönen Tages einen kleinen Wettstreit. Derjenige sollte Sieger und der beste Kritische Theoretiker sein, der das Reflexivum “sich” am weitesten postponieren (nachstellen) konnte.

“Das hört sich gut an!” rief Erich Fromm und schied sofort aus.

“Jetzt wird sich mal zeigen”, schrie begeistert Herbert Marcuse, “wer was drauf hat im Kopf!” – und natürlich sah damit auch Marcuse kein Land.

Etwas geschickter stellte sich Walter (“Benjamin”) Benjamin an, der mit einem “Der Marxismus muß mit dem Judentumn sich verbrüdern!” zum Erfolg kommen hoffte.

Habermas hatte offensichtlich die Regel mißverstanden oder was, jedenfalls schien er mit seinem Beitrag “Sich denken, bringt wahre Selbstreflektion des Geistes” aus, und auch Pollock brachte es mit einem “Gott ist an sich im Himmel” nicht recht weit, ja er wurde sogar mit Schulverweis bedroht (…) jedenfalls legte nun lächelnd Max Horkheimer mit dem Satz “Die Judenfrage erweist in der Tat als Wendepunkt sich der Geschichte” einen echten Hammer vor, indessen – nicht zu glauben, daß auch dies noch übertroffen werden konnte: Sieger wurde und sein Meisterstück nämlich machte Adorno mit dem geflügelten Satz: “Das unpersönliche Reflexivum erweist in der Tat noch zu Zeiten der Ohnmacht wie der Barberei als Kulmination und integrales Kriterium Kritischer Theorie sich.”

Aus: Eckhard Henscheid: “Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte”

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Der geneigte Leser sollte gemerkt haben, dass Noergler, Netbitch und ich alle gerne das postponierte Ich gebrauchen. Henscheid schrieb selber satirische Romane und Verwendung von imitiertem Frankfurter-Schule-Jargon. Wir hatten früher in linken Zusammenhängen eine Diskussion über diese Art Sprache, in der die eine Fraktion den Standpunkt vertrat dies sei Herrschaftssprache, die Nicht-BildungsbürgeInnen ausschließe, und es sollte nur so kommuniziert werden, dass jeder Prol es versteht. Ich selbst musste mich in einigen Situationen geradezu rechtfertigen für meine elaborierte Sprache. Die andere Fraktion argumentierte damit, dass sehr komplexe und analytisch tiefe Gedankengänge nun einmal auch eine Fachsprache benötigen, um artikuliert werden zu können. Es ist interessant, dass Kritik an hochkomplexer Sprache immer nur in Bezug auf politische Theorie und Geisteswissenschaften in oftmals hochaggressiver oder aber lächerlich machender Weise vorgetragen wird. Niemand würde einen Physiker, Arzt oder Juristen anfahren mit: "Nun rede mal nicht so geschraubt!".

http://www.amazon.de/Horkheimer-hereinlegte-Anekdoten-Fussball-Kritische/dp/3251000136

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Huch,
diese adornöse Marotte war in dieser Runde bisher nur beim noergler mir aufgefallen.

Ansonsten finde ich es nicht so verwunderlich, dass der Schwurbelvorwurf Ärzten, Juristen oder Physikern nicht in dem Maß gemacht. Von Sprache glaubt ein jeder was zu verstehen, der einen graden Satz herausbringt, und ein beschränkter Polithaudrauf, der sich aber wunder weiß wie für den kritischen Durchblicker hält, glaubt von Gesellschaft genug kapiert zu haben, als dass ihm Abstraktionen à la Kritische Theorie noch viel sagen müssten. Und anstatt dann einzugestehen, dass nicht so recht der Peil da ist, wovon da die Rede ist, blafft es sich natürlich leichter rum, boah wasn Geschwurbel! Wobei ich mich bei solchen Kommentaren auch schon ertappt habe (wenn auch nicht hier oder im näheren Umfeld).

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Daß Sprache und Sache einander nicht äußerlich sind, zeigen die Texte von Karl Kraus und eben auch die von Adorno. Es ist eine Sprache, die viel mit Musik zu tun hat. Sie ist nicht schwieriger als die Fachsprache des Chefarztes. Nur: der könnte es einfacher ausdrücken, will aber aus Gründen der Distinktion nicht. Bei Adorno ist diese Sprache und diese Art des Schreibens in der Sache notwendig gegründet. Man lese dazu seinen Text "Der Essay als Form" oder auch die Einleitung in die Negative Dialektik.

Und schon Walter Benjamin wußte: Philosophie ist eine Zuhältersprache.

Sie ist nun einmal für Eingeweihte, und es braucht in der Philosophie Zeit, um in der Sache zu sein, denn schlließlich sind die gelungenen Texte der Philosophie keine Gebrauchs- oder Lebensanweisungen. Und es läßt sichh Philosophie nicht in irgedwelchen Masterstudiengängen lernen und vor allem: begreifen. (Es steckt in diesem Verb: Begriff.)

Wenn ich nicht in HH und sehr okkupiert wäre, könnte ich mich hier noch seitenlang zu Adorno und der Weise, wie zu philosophieren sei, auslassen.

Der Henscheid-Text ist, wie das ganze Buch, genial lustig. Ich habe ihn vor einigen Jahren, meine ich mich zu erinnern, auf meinem Blog zitiert.Na ja, ich bin schließlich auch ein kluger Kopf, der bekanntnlich hinter allem steckt, glaubt man der Anzeigenkampagne,die eine überregionalen Tageszeitung einstmals schaltete.

Auch zu Henscheid und der Neuen Frankfurter Schule könnte ich eine Menge schreiben. Und wir wissen es ja alle selber: Die schärfsten Kritiker der Elche, waren früher selber welche. Dazu die süße Elchzeichung des tollen Traxlers.

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Die Zuhältersprache
Die Zuhälter- und Hurensprache ist so uninteressant übrigens nicht, sondern kreativ und witzig. Da heißt ein lediger Mann "Handwerker" oder "Matratzensolist" und eine gute Hure, aber auch allgemein eine lebenslustige Frau "Amüsiermatratze", ein Escort-Girl "Brokatmatratze", und "Flohfänger" sind Schamhaare.
Ein Tampon ist ein "Flutwehr", eine Möse ist das "Meer", SM-Sex heißt "marinieren" oder "meistern".

http://che2001.blogger.de/stories/1573355/

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Du musst das kontextualisieren, z.B. "Süßer, du ziehst jetzt einen Mündungsschoner über den Spaltenmeißel!"


Beim Meistern ist gerade schon wieder eine Peitsche kaputtgegangen, das Zeug hält nix aus)-:

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Just genau in der Minute, in der ich den letzten Satz von Netbitch las, tönte es aus dem Fernsehen, in verzweifelten, drückenden Ton:
"Ein Mann kann ich nicht mehr sein, jetzt bin ich nur noch zerschundenes Fleisch!!"
Echt jezz. Und meine Katze miaut gerade und bittet mich damit zu Bett. Insofern: Good night!

@ Willi

Manchmal hilft es, wenn man vor der Behauptung schwurbelnder Nichtverstehbarkeit zunächst einmal versucht, Zugang zu dem nicht verstandenen Vokabular zu finden. Wikipedia z.B., du verstehst? Das setzt allerdings etwas voraus, quasi als persönliches Dispositiv, was ich bei bei deinen Einlassungen regelmäßig bei dir vermisse:

Offenheit, Auffassungsgabe und Neugierde.

Ich vermute jedenfalls, du siehst das, was ich in deine Richtung fast schon übergriffig formuliert habe, vollständig anders. Nur, wenn dem so ist, würde ich schon gerne wissen: Warum?

(Kaum jemand hier ist so vorgefasst in dem, was er schreibt, und noch mehr, in dem, wie er reagiert wie du es bist als Kommentarpersönlichkeit - und ich hoffe, du bist nicht auch noch stolz darauf)

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Es ist keine "adornöse Marotte". Vielmehr steht bei Adorno das "sich" da, wo es grammatisch und dem Sprachzusammenhang nach hingehört. Die üblich gewordene Positionierung hingegen zerreißt den Zusammenhang. Schlimm genug, dass eine Arroganz von unten das sprachlich Selbstverständliche auch noch glaubt anpissen zu können.

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@ Nörgler

Man kann aber auch adornös marottieren, wenn man es darauf anlegt. In seinem Fankreis kommt so etwas schon einmal vor. Ich gebe dir trotzdem völlig recht, weil die meisten, die sich ausgerechnet an der Sprache von Adorno (ist doch eine schöne Sprache, oder nicht?) stören, imho einfach nur: denkfaul sind.

Ich lasse mir den Gegenbeweis aber gerne zeigen. Im Übrigen zeigt sich bei den Leuten, die sich gerne und positiv auf Adorno beziehen, i.d.R. ein überdurchschnittliches Sprachgefühl - was sich umgekehrt reziprok an denen erweist, die Adorno oder seine Sprache verdammen.

;-)

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Anpissen?
Dazu fehlt es mir schlechterdings an Druck auf der Blase. Dieser Schwank vom Willy war doch ausnahmsweise mal witzig, mehr nicht.

Das Selbstverständliche ist es eben (leider) nicht, die Sinnzusammenhänge zusammenzulassen wo sie zusammengehören, insofern finde ich diese sehr spezielle Minderheitenangewohnheit mit dem Begriff Marotte (oder meinethalben auch Schrulle) so schlecht nicht getroffen. No piss intended...

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zum Reflexivum: manchmal, wenn ich nicht konzentriert bin, überlese ich das nicht-postponierte Reflexivum (oder schreibe es automatisch hin, quasi unbemerkt), weil es einfach zu selbstverständlich dasteht (bzw. in die Tastatur fließt). am Ende des Satzes stehe ich dann mit leeren Händen da oder der Satz hat unversehens gleich zwei Reflexiva, eins am Anfang, eins postponiert.

der Duden (selbstverständlich nicht die höchste Instanz!) empfiehlt, es möglichst weit nach vorne zu schieben. aber manchen Sätzen, die etwas komplizierter sich gestalten ober bei denen sich die wichtigsten Aussagen in den Schluss-Sentenzen finden, gibt das postponierte Reflexivum imho mehr Klarheit. es ermuntert zum Rückwärtslesen und führt dadurch mehr zu einer Art "musikalischen" Lesens.
einer Musik-Komposition zu Lauschen, beinhaltet ja auch nicht nur das schlichte Auffassen des Moments, sondern ebenso immer ein Rekapitulieren der musikalischen Bewegung und (enttäuschte) Erwartungen - jedenfalls in tonaler abendländischer Musik, in welcher der Prozess des Komponierens allgemein gesagt ein Vorwärts- wie auch ein Rückwärtsdenken mitsichbringt.
auf diese Weise ermöglicht das postponierte Reflexivum, wenn der betreffende Satz sich dazu eignet, eine Art "syntaktische Gesamtschau", wenn ich so sagen darf, ein Gefühl für die Gesamtstruktur des Satzes, den Rhythmus, wodurch sich in der Folge der Sinn womöglich besser einprägt. ist der Satz dann jedoch noch nicht zuende, hat es postponiert noch einmal die Struktur des Satzes, in welchem es vorkommt, in Erinnerung gerufen. zuweit vorne führt es bei mir oft zu einem panikhaften, atemlosen, hechelnden Schnell(lllllllll)esen.

bei Adorno wird nun dieses "musikalische" Schreiben ziemlich weit getrieben, und das syntaktische "Pattern" rückt vielleicht für manchen Leser oder manche Leserin in den Vordergrund; "Adorno-Sound" finde ich da aber immer etwas oberflächlich; kennenlernen tut den eins nur, wenn eins sein syntaktisches (Kurzzeit-)Gedächtnis übt, durch Adorno-Lesen z.B. dann kommt der Überblick. nachgestellt gibt es dann eine schöne Zäsur, in deren Erwartung der Leser sich entspannt auf den Satz und hoffentlich den Sinn konzentrieren kann. "Adorno-Sound" geht da m.E. an der Sache vorbei - abgesehen davon, dass es für eine ganze Generation von Gymnasiallehrern das allerhöchste Ziel gewesen zu sein scheint, nur einmal, wenigstens einmal, so zu klingen, wie Teddy Adorno. aus solcher Perspektive kommt eins vielleicht zu „Marotte“.

ich wohnte übrigens einmal einer solchen Diskussion von Übersetzern bei; es war dann der amerikanische Übersetzer aus den Staaten, der schlicht feststellte, Adorno schreibe in einem "crystal clear german“.

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Eben!

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Danke und Chapeau an Ziggev, luzide gemacht, brillant.

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