Sonntag, 3. September 2006
Vom Frieden und denen, die ihn wollen - oder auch nicht
Dass Hamas oder Hizbollah keinen Frieden in Nahost wollen, liegt auf der Hand und braucht m.E. nicht weiter diskutiert zu werden. Dass aber auch die israelische Regierung an einem auch für die Palästinenser fairen Frieden (d.h. einem Frieden mit einem wirtschaftlich lebensfähigen Palästinenser-Staat) zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein Interesse hat, darauf scheint mir dieser Artikel des von mir hochgeschätzten Gadi Algazi hinzudeuten.
http://www.monde-diplomatique.de/pm/2006/08/11/a0008.text.name,askkxElXk.n,0

Gadi, den ich persönlich kennengelernt habe und als Genossen bezeichnen würde, ist Historiker in Tel Aviv, Mitbegründer und Aktivist der Friedensinitiative Ta Ayush (die übergreifend gewaltfreie Widerstandsaktionen von Palästinensern und Israelis gegen das Besatzungsregime in den Westbanks organisiert). Mir drängt sich die Frage auf, ob der Zeitpunkt der Eskalation des Konflikts durch das israelische Militär - bei der Gaza-Intervention ging es ursprünglich um einen entführten Soldaten, im Libanon um einen Grenzzwischenfall - vom israelischen Militär nicht gewählt wurde, um von sozialen Konflikten im Lande selbst abzulenken. Solch ein sozialimperialistisches Vorgehen ist ja gang und gäbe, die Gegenseite macht es auch: Die Al-Aksa-Intifada nahm Scharons Betreten des Tempelbergs zum Anlass, wirklicher Hintergrund waren aber Palästinenser-interne Konflikte zwischen Hamas und Fatah, die kurz vor dem Ausbruch eines innerpalästinensischen Bürgerkriegs schwelten und durch die Aggression gegen einen "äußeren Feind" kanalisiert werden sollten. Das israelische Militär liquidierte zwar führende Hamas- und Djihad-Terroristen, aber mit ihrer Schlagkraft in der Breite ging sie gegen die einzige Kraft vor, die Palästinenser- intern Hamas & CO hätte stoppen können - Arafats Polizei. Weder führt das israelische Militär einen notwendigen Abwehrkampf, zu dem es keine Alternative gibt, noch führen die Palästinenserorganisationen einen moralisch legitimen Befreiungskampf gegen ihre Unterdrücker. Beide Seiten betreiben vielmehr eine brutale Machtpolitik, die den Interessen bestimmter Eliten dient. Und mit den Sonderwirtschaftszonen am "Zaun" erwächst aus einem Staat, der gegenüber den Palästinensern schon so etwas wie eine Art abgemildertes Apartheitsregime darstellt, zunehmend eine Art soziale Apartheid, in der arme, frisch eingewanderte Juden eine neue Unterklasse darstellen. Vom egalitären Klima Israels in den Pionierjahren ist man sehr weit entfernt. Mit der Neuzusammensetzung der Klasse stellt sich allerdings die Frage, ob soziale Bewegungen jenseits bzw. quer zur Palästinafrage eine Perspektive haben. Man nannte so etwas einmal Klassenkampf.

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Schöner Beitrag. Schön kontrovers zu den üblichen klischeegeprägten Debatten zu diesem Thema vor allem.

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Che et al: Wie steht Ihr eigentlich zu Israel und zum Zionismus?

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Zunächst möchte ich workingclasshero zustimmen – ein sehr guter Artikel, der sich wohltuend von dem üblichen Geplapper zum Thema unterscheidet. Du arbeitest die Gefahren der Mauer für die israelische Gesellschaft heraus und da bin ich mit Dir einer Meinung, auch über die Beweggründe der israelischen Regierung auf der einen und von Hamas et al. auf der anderen Seite besteht Konsens.

Bleibt ein auf den ersten Blick innerisraelisches Problem. Nur wie sieht es mit dem input der Mauer auf die Menschen auf der anderen Seite des Zaunes aus? Wie verändern sich die Perspektiven für die Palis direkt an der Mauer – schließlich liegen ca. 9-10% der Westbank westlich der Mauer und für die betroffenen Gemeinden heißt das den Verlust bzw. die nur noch eingeschränkte Verfügbarkeit ihres Ackerlandes (ca. 40%) und so schreibt ja auch Gadi Algazi:

"Die israelische Besatzung wird häufig in Begriffen beschrieben, die man auf Konflikte zwischen zwei Staaten anwendet. Die Entstehung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) hat diese Tendenz gefördert. Doch im Kern handelt es sich um einen kolonialen Konflikt. Zwischen Israelis und Palästinensern geht es nur vordergründig um symbolische Gesten und diplomatische Schachzüge. In Wahrheit geht es um ganz konkrete Fakten, um Brunnen und Olivenhaine, um Gebäude und Straßen, um Einwanderung und Ansiedlung."

Was heißt das für die Perspektive eines zukünftigen Palästinenserstaates und was heißt das für die Entwicklung der gesamten Region? Die kleinen Grenzübergreifenden Protestaktionen sind in ihrer Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen nur sind sie wohl kaum in der Lage einen Friedensprozeß in Gang zusetzen der alle Interessen berücksichtigt und zum Ausgleich führt.

Das nur mal so als Randnotiz zu einem Konflikt der sich längst nicht mehr auf einen Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern beschränkt, wenn die kommenden Probleme auch nur ansatzweise gelöst werden sollen, nur als Beispiel das Wasserproblem, ist eine Einbeziehung aller Länder der Region einschließlich Türkei notwendig. Der erste Schritt wäre wohl der geforderte notwendige Rückzug Israels auf die Grenzen von 1967, nur was wird dann aus den Siedlern und was wird wenn Israel plötzlich die 80% der Palästinensischen Wasservorkommen fehlen die heute noch nach Israel fließen? Also doch weiter in einem Kolonialkonflikt, einer Auseinandersetzung die anscheinend politische Kräfte beider Seiten als Legitimation brauchen und der Westen, allen voran die USA, demonstriert weltweit die Unfähigkeit einen Ausgleich der Interessen zu realisieren?

Wie gesagt, sehr guter Artikel, nur fehlt mir die Perspektive aber geht wohl nicht alles auf einmal und sofort.
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hat sich mit netbitch überschnitten

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Dass der Staat Israel eine andere Existenzgrundlage hat als alle anderen Staaten, nämlich den, sein (jüdisches) Staatsvolk vor der Vernichtung zu schützen, und daher die Existenz Israels einen zivilisatorischen Wert an sich hat, diese Position sowohl der Zionisten als auch der Antideutschen teile ich. Und andererseits muss man auch sagen, dass dieser Staat sich für die Palästinenser, nicht nur in den besetzten Gebieten, sondern teilweise auch in Israel selber, sich als eine repressive Kolonialmacht darstellt, das stimmt ebenso. Ich kritisiere den Zionismus, weil ich jeden Nationalismus kritisiere, vor dem Hintergrund der Shoah gebe ich ihm aber einen anderen Stellenwert und eine höhere historische Existenzberechtigung als anderen Nationalismen - ähnlich, wie ich den kurdischen oder armenischen Nationalismus sehe. Nur, wenn man sich auf das Spiel der Anerkennung von Befreiungsnationalismen erstmal einlässt, muss man auch den der Palästinenser anerkennen, und für den ist die Gründung Israels Al Nakba, die Katastrophe. Wie da eine Lösung finden?


Kaum ein Konflikt ist so vertrackt und so verfahren wie dieser. Ich denke, ähnlich wie der Kemalismus in der Türkei müsste der Zionismus in Israel als Ideologie und Staatsdoktrin allmählich in den Hintergrund geraten gegenüber pluralistischen Formen des Zusammenlebens und der multiethnischen und multireligiösen Verständigung. Ta Ayush gibt da wichtige Fingerzeige, eventuell auch Gush Shalom, wobei mir Avneri zu polemisch und in seiner positiven Überzeichnung der Fatah zu plakativ ist. Auf jeden Fall müsste von beiden Seiten deeskaliert werden, und da sehe ich im Augenblick mehr so gar nichts. Zur Gründung eines Palästinenserstaates in den Grenzen der Westbanks von 1967 sehe ich keine Alternative, doch der Zaun und das Mikrowirtschaftssystem um diesen herum nehmen dieser zunehmend die Grundlage. Und mit einer teils korrupten, teils religiös verblendeten palästinensischen Parteienlandschaft ist auch kein guter Staat zu machen. Tendenz: Es bleibt schwierig.

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Siedlerstaaten an sich sind ein Problem (vgl. Südafrika und die meisten Staaten Südamerikas), weil sich ihre dominierende Bevölkerung als ethnische Abstammungsgemeinschaft von Eingewanderten definiert und von den Indigenen abgrenzt. In Israel trifft diese Problematik mit dem Antisemitismus und den sozialen Problemen der arabischen Welt zusammen, und gegen diese Mischung ist die Büchse der Pandora geradezu nett. Wie man sich auch positioniert, man hat mit Unrecht zu tun. Pro Israel? Auf der Seite einer harten militärischen Repression und eines verlustreichen Präventivkrieges, auf der Seite von Vertreibung und Entmündigung.
Pro PLO? Auf der Seite einer korrupten Verwaltung, religiöser Mordbomber und antisemitischer Ideologen.
Deinem "Es bleibt schwierig" stimme ich zu, aber wo ist eine Lösung?

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Lösungen kann es nur da geben, wo Gewalt und Eskalation zurückgenommen werden und an einer Verbesserung der sozialen Lage der Bevölkerung gearbeitet wird. Ich kann nur eine solche globale Antwort geben, sorry.

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Hab auch keine Lösung und da sind wir in guter Gesellschaft, um nochmals auf den Artikel von Gadi Algazi und die Sonderwirtschaftszonen zurück zukommen:

"Ein solches System wird so lange weiter funktionieren, bis das koloniale Projekt für Israel irgendwann zu einer eindeutigen Belastung wird und der Widerstand der kolonisierten Bevölkerung - oder der verbündeten Staaten - die Israelis zu einem Kurswechsel zwingt."

Lösung des Konflikts von Innen heraus da die sozialen Spannungen innerhalb Israels durch die Siedlungsprojekte verschärft werden. Dieses kann aber nur in einem Klima äußerer Ruhe einsetzen (siehe che). In einer Situation in der die Falken, freundlich ausgedrückt, beider Seiten den Takt vorgeben kaum realistisch. Beide brauchen den Konflikt zur eigenen Legitimation. Bleibt Lösung durch Intervention von Außen (USA, EU, UN) nur wer soll, besser: kann oder will, diesen Prozeß moderieren.

Bleibt zunächst wohl nur der Prozeß auf lokaler Ebene, wie die im Artikel angesprochene Kleine Sperrzaun Intifada, Hilfen für die Menschen vor Ort, Milderung der Symptome – wohl kaum ein Lösungsansatz mit Perspektive.

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@che
Vielen Dank für die globale Antwort. Es ist nichts hinzuzufügen.

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Zum Thema klischeegeprägte Debatten fällt mir im Übrigen Folgendes ein:

Für die Liebhaber von Klischees und denen, die sich angesichts einer fürchterlich komplexen Welt nach dem Einfachen sehnen, gibt es jetzt eine Strichliste.

Was denken Sie zu Israel, dem Nahostkonflikt und dem Zionismus?

Bitte kreuzen Sie an:

1) Die israelische Armee ist die Antifa (je nach Gesinnung durch "liberal", "konservativ", "verteidigt christliche Werte" zu ersetzen), und Koscheres esse ich für mein Leben gern.

2) Das zionistische Gebilde spinnt und hat zu verschwinden, und es wird Zeit, die Achse Berlin-Teheran-Pyöngyang aufzubauen.

3) Israel ist ein landschaftlich und kulturell interessantes Land und sollte wie jeder andere Staat behandelt werden. Übrigens gibt es dort auffallend viele Juden und Araber.

4) Der Imperialismus ist ein Papiertiger, den der heldenhafte palästinensische Freiheitskampf zerschmettern wird.


5) Völker, Staaten und nationale Konflikte sind angesichts der Globalisierung völlig irrelevant.

Unter all den Prowestlern, Alt-Antiimperialisten, Wertkritikern, Simpel-Pazifisten etc., die mir so über den Weg gelaufen sind, dürfte diese Strichliste alle Bedürfnisse bedienen :-)

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"Die israelische Armee verteidigt christliche Werte" und Punkt 3 gefallen mir besonders gut. Sind Mehrfachnennungen möglich?

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Aber immer, das ist dann Teil des Tests "Was bin ich für ein Fanatiker?".

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