Freitag, 19. Januar 2007
Einwurf zur New Economy, Web2.0 und der Liebe zur Gründung neuer Portale
Als jemand, der die heiße Phase des NE-Hypes als einer seiner Tonträger mitgemacht hat, möchte ich hier einige an anderem Ort schon gemachte Bemerkungen noch einmal rekapitulieren.

Außer uns paar Insidern hat damals ja kaum jemand wirklich kapiert, was mit der New Economy passiert ist. Das Geschäftsmodell einer ganzen Branche lautete “Found it, bring it up, sell it and run away”, die Unternehmen sollten kein sinnvolles Produkt und keine notwendige Dienstleistung anbieten, zumindest stand das nicht im Mittelpunkt, sondern Produkte und Dienstleistungen stellten nur die Kulisse dar für Geschäfte, bei denen es darum ging, nach dem Börsengang vom Verkauf der Aktien selber zu leben, Wolkenschiebereien, Potemkinsche Dörfer und Schneeballgeschäfte, der größte Betrug seit der Staviski-Affäre oder mindestens IOS. Was jetzt, sei es Holtzbrinck, seien es diverse Communities wie StudiVZ, sei es Hein Blöd oder Kalle Barsch, erneut versucht wird, ist die Kopie des größten Betrugs. Na dann viel Spaß, ich putze meine Finalizer!

Die aktuelle Legendenbildung sagt, es habe am fehlenden Controlling gelegen. Das erzählen Minister und Manager auf Symposien (auch wenn ich davor gerade vorgetragen habe, das es sich um eine Art kollektiv organisierten Betrug gehandelt hatte), und das steht auch in Diplomarbeiten in BWL, die heute dazu geschrieben werden (auch wenn die von den Diplomanden interviewten NE-Entscheider ganz Anderes erzählt haben, das läuft dann in den Arbeiten, wenn es überhaupt reflektiert wird, unter “Zynismus”, “Enttäuschung” oder “schwarzer Humor”). Eine Seite wie Boocompany kommt der Realität weitaus näher, als alles, was zu diesem Thema je in der Presse zu lesen war oder was die im Augenblick anlaufende “Vergangenheitsbewältigung” sich so zurechtdichtet.

Mangelndes Controlling - bei uns wusste der Controller ein dreiviertel Jahr vorher, dass sich die Insolvenz nicht würde verhindern lassen, alle in der Firma wussten das von ihm, und es ging nur darum, einen Investor oder VC zu finden, der Geld in den Laden pumpt oder uns kauft, ohne zu merken, wo das faule Ei liegt. In einem anderen Fall (ganz anderes Unternehmen, Branche Telekommunikation) demonstrierte die Controllerin in einer Powerpointpräsentation, die unsereins dummerweise besitzt, den Ablaufplan eines betrügerischen Konkurses. So sah es aus!

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Fragen eines lesenden armen Irren
Und warum hast Du mitgemacht?
Du warst jung und brauchtest das Geld?
Weil's ein prickelndes Gefühl war?
Weil Du wusstest, dass, egal, was man macht, immer noch bereuen können wird, später, und dass man als Paulus eine viel höhere "credibility" haben wird - "been there, done that"?
Kommen solche Anekdoten gut auf Partys?

Manchmal kommt man sich vor wie in einem schlechten Hollywoodfilm, in dem jeder Privatermittler früher bei der "Firma" war.

Verstehe einer die Menschen.

PS: Aber schön, dass ständig neue Generationen nachkommen. So kann das Spielchen immer weitergehen. Zu jedem Zeitpunkt gibt es jeweils Leute, die gerade hochkommen, gut absahnen, aussteigen, (optional) bereuen, warnen, milde lächeln, es noch einmal wissen wollen, vom dem ganzen Kram auf ihrer (damit bezahlten) Finca nichts mehr wissen wollen usw.

Die schärfsten Kritiker der Elche...

Auftritt am Podium: "Also, Leute, ich war früher selbst dabei, und wenn ihr wüsstet..."

Und alle: "Yeah, erzähl' uns was!"

Darauf, ernster: "Nee, damit ist wirklich nicht zu spaßen. Also, ..."

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Ich hatte nur die Wahl zwischen diesem Job und Sozialhilfe, und das Sozialamt war mir schon mit organisiertem Terror gekommen - angedrohte Zwangseinweisung in ein städtisches Wohnheim, weil DM 500 für eine 50-Quadratmeter Wohnung zu teuer wäre, angedrohte Entziehung meines Autos etc. Ich verkehrte mit dem Amt nur noch über meinen Anwalt. Dann kam eine Weiterbildung und dann der Job. Wobei der Charakter der Branche die eine Sache war - zum Anderen habe ich nie wieder einen Arbeitgeber mit einem so netten Betriebsklima erlebt, und das waren Leute, die auch nach der Insolvenz füreinander einstanden und einander helfen, dies z.T. bis heute tun.Im Übrigen habe ich das, was da ablief, erst kapiert, als ich schon eine Weile dabei war.

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Lieber Che, ich war nur bei einem Unternehmen, das so aussah wie NE, aber kaum VC-Geld hatte. Das ist mein Disclaimer. Ich glaube aber, dass Deine Analyse nur für einen bestimmten Anteil galt und damit falsch ist. Aber auch ich kenne Geschichten wie die eines Freundes, der erst nach einem Jahr verstand, was seine Firma überhaupt tat (und das Konzept war vollkommen hohl). Zum einen haben einige dieser Firmen überlebt und leben heute gut oder auch besser. Wie viele - müsste ich recherchieren. Zum anderen aber war doch das Hauptproblem die Banken, VC, Beratungsunternehmen etc. Die haben das ganze Land abgegrast nach Klitschen, die sie noch an die Börse bringen konnten. Da wurde der Anleger verarscht, der Firmengründer ging überfordert über die Wupper, Die Leute wurden arbeitslos etc. Klar, Kriminelle gab es auch und die wurden hoffentlich erwischt. Aber die Banken und Konsorten haben das Geld eingesteckt und im Nachhinein die Leute hängen gelassen. Du prügelst auf die falschen ein.

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Ja, aber wen dann aufklären? Und über was?

Vielleicht war Ehssan Dariani genau in derselben Lage - vielleicht wird ER dann, 2015, vor der Web 3.0-Blase warnen, aber argumentieren, dass der Aufbau von StudiVZ eine schöne Zeit in seinem Leben gewesen sei; gewiss: die eine oder andere Sache, da könne man drüber reden, über die moralischen Implikationen habe er auch erst später nachgedacht - mea culpa!

Dieses Argumentieren mit Sachzwängen, die einem gar keine andere Wahl gelassen hätten, als - rubbeldiekatz! - ausgerechnet die schlechtestmögliche Variante zu wählen, ist doch genau der Grund, warum solche Dinge weiter laufen können: Wollen tut das niemand, alle sind eigentlich viel aufrichtiger, aber he! - "Besser die als ich!, "Es ist nur für ein paar Jahre!", "Geld stinkt nicht!", "Schließlich trifft es nicht die Falschen...", "Ist ohnehin alles so irreal..."

Diese mentale Reißleine, die jederzeit vor der Nase baumelt, sorgt dafür, dass der exit moralisch weitgehend unbeschadet überstanden werden kann - es war ja nur ein "job". Dass dabei nicht mit Spielgeld gepokert wurde? "Wenn ich's nicht mache, dann jemand anders..."

Meiner simplen Weltsicht nach liegt die Wurzel des Übels im Aufschneidertum und seiner Hochschätzung, quer durch alle politischen und gesellschaftlichen Schichten. Klar muss es die Masse der aufrechten Bürger geben, aber so ein rechtes Zeichen von Geschmeidigkeit ist's doch erst, wenn man, gerne unter widrigen Umständen, sich über diese hinweghebt, über deren Köpfen, erst langsam balancierend, dann immer gewagter, seine Kunststückchen aufführt - "nimm die Stollen, das gibt mehr Griff!" Und dabei ein Liedchen pfeifen. Und über die soziologischen Dimensionen des eigenen Handelns philosophieren, unter Einbeziehung von Bourdieus "Feinen Unterschieden" und Mickey Maus. Ironische Distanz ist das Universalwerkzeug und Zeichen von Intelligenz schlechthin.
Das Schlitzohr ist das Idol aller, auch derjenigen, die die Stollen in die Fresse kriegen: "Einmal so sein!"

Jede Wette: Wenn Ehssan Dariani in einem Szenelokal der "üblichen Verdächtigen" auftaucht, werden sich auch diejenigen, die an der blogbar Zeter und Mordio geschrieben haben, denken: "Mo-ther-fuck-a!", und zwar durchaus anerkennend. "Der hat sie alle auf's Kreuz gelegt! Der hat's geschafft!"
Und genau da liegt das Problem.

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Nur ist das alles überhaupt nicht meine Denke. Ich bin in der Geisteshaltung sozialisiert worden, dass man nur Jobs machen darf, die politisch korrekt sind, das heißt, für eine NGO arbeiten, als kritischer Journalist, als kritischer Wissenschaftler (all das habe ich phasenweise auch getan), alles Andere ist vom Teufel. Dementsprechend habe ich ein Volontariat beim Handelsblatt, das ich hätte bekommen können, ausgeschlagen - Handelsblatt ist der Klassenfeind - und mich keiner wissenschaftlichen Schule, keiner persönlichen Seilschaft eines Professors angeschlossen, weil das für mich Korruption war. Dementsprechend wurde ich bei der Besetzung einer Assistentenstelle nicht berücksichtigt, dementsprechend ging es bei meiner journalistischen Arbeit um die Aufdeckung von Korruptionsaffären und Gerichtsreportagen über Prozesse mit politischem Hintergrund. Als ich dann, quasi vom Sozialamt dorthin geprügelt, diese Stelle in der New Economy angetreten habe - wie gesagt in einer Firma, in der das interne Betriebsklima wundernett war und sich auch andere Altlinke mit schräger Biografie fanden - bin ich dort gelandet, nicht weil ich opportunistisch war, sondern weil ich bis dahin zu kompromisslos gewesen war, um überhaupt in der Wirtschaft zu arbeiten, und sich mir mittlerweile andere Türen verschlossen hatten.

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Che, wir sind alle während einer bestimmten Phase unseres Lebens sozialisiert worden. Manche haben sich später genau gegen diese Sozialisation entschieden, andere haben Teile davon übernommen und wieder andere sind genau in den Gleisen ihrer Vorfahren geblieben. Aber irgendwann befreit man sich doch aus dieser passiven Rolle und gestaltet sich selbst ganz aktiv mit.

In unseren Kreisen in der DDR gab es auch Dinge, die »man« nicht tat: das waren im Grunde alle Dinge, mit denen der Staat Karrierevorteile für junge Leute verknüpfte [SED-Mitgliedschaft, Stasi-Versuchungen ...]. So waren wir bis zu einem gewissen Grad auch rigoros, aber nicht so radikal, dass wir im Wirtschaftssystem DDR nicht studiert oder gearbeitet hätten.

Auch nachdem ich nun wirklich viel von Dir gelesen habe, kann ich eine so starke Rigorosität nicht verstehen. Verzeih' mir diese Frage am Abend, aber in was für einer Umgebung bist Du denn damals gewesen und warum hast Du Dich nicht aus dieser Verbohrtheit befreit?

Vielleicht hatten wir es da in der DDR trotz der äußerlichen Gefangenschaft hinter der Mauer doch etwas einfacher. In der DDR der späten achtziger Jahre haben viele junge Leute mit Anfang 20 schon eine Familie gegründet und in vielen Fällen war damit auch eine Befreiung aus dem Käfig der elterlichen Moralvorstellungen verbunden. Als unser älterer Sohn auf die Welt kam, sind massenweise DDR-Bürger nach Ungarn abgehauen. Das war im Sommer 1989 und ich bin Jahrgang 1967. Noch Fragen?

Ich habe während meines Studiums sehr zeitig eine freiberufliche Tätigkeit angemeldet und oft mehrere Aufträge zur gleichen Zeit gehabt -- sonst wäre es ja überhaupt nicht vorangegangen. Ich habe auch mal mein Studium unterbrochen. Aber die NE-Zeit hat mich nicht in Gewissenskonflikte gebracht, weil ich Spekulation instinktiv abgelehnt habe und es zu dieser Zeit sehr viel gut bezahlte Arbeit gab. Angenehm fand ich die Verbesserungen in der Logistik und in der Telekommunikation. Aber sonst ist damals vieles an mir vorbeigegangen. Für mich war VC einfach Spiel- oder Spekulationsgeld, das ich gedanklich nie mit erarbeitetem Geld verbunden hätte. Das mag heute albern klingen, aber es hat mich vor einigen Fehlentscheidungen bewahrt.

Du schreibst von Arbeit bei einer NGO, und sonst nichts -- wurden denn früher die NGOs nicht auch aus Haushaltsmitteln oder steuerlich absetzbaren Spenden gefördert? Ist eine NGO ohne funktionierende Marktwirtschaft überhaupt vorstellbar? In der DDR gab es jedenfalls keine ;-)

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Ich entstamme ja auch alternativen Kulturen. Inzwischen glaube ich, dass alle (mir bekannten) alternativen Kulturen menschenverachtend sind und die persönliche Entwicklung von Menschen behindern. Ich werde mit meiner ÖKO-Punkrock-Vergangenheit an anderer Stelle abrechnen.

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Die persönliche Entwicklung des Menschen wird durch alle bestehenden Kulturen behindert, abgesehen davon, dass der Mensch ein soziales Wesen ist und die Vorstellung des freien und auf sich gestellten Individuums zumindest weitgehend ein Konstrukt ist. "Niemand ist eine Insel, ganz auf sich gestellt. Die Freude jedes Menschen gibt mir etwas, und das Leid jedes Menschen nimmt mir etwas, weil ich teilhabe an der Menschheit" (John Donne). Für meine persönliche Entwicklung wäre es zum Beispiel gut, eine Weile im Ausland zu arbeiten, dem steht aber entgegen, dass ich eine alte Mutter habe, um die ich mich von Zeit zu Zeit kümmern muss. Die alternativen Kulturen entstanden ja aus dem Aufbegehren gegen die Defizite der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, jener Mischung aus motorisiertem Biedermeier und postfaschistisch-antikommunistischer Frontstellung, die heute nicht mehr denkbar wäre. Dass die alternativen Kulturen menschenverachtende Züge haben, ist nur Ausdruck der Gesellschaft, der sie angehören, auch wenn sie das explizit nicht wollen.

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"ich putze meine Finalizer!"
Dann wird's ja wieder rund gehen! :-)

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Es wird.

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Lieber Bandini, ich trete hier ja mit keinem Absolutheitsanspruch auf, sondern beschreibe nur das, was ich erlebt habe. Hast Du "Liquide" von Don gelesen? Vor diesem Hintergrund - und dem von Dotcomtod - würde klarer, was ich eigentlich meine. Es fällt schwer, in einem einzigen Posting oder auch Thread einen jahrelangen Diskurs zum Thema New Economy zusammenzufassen.

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Es fällt natürlich generell schwer, jahrelange Entwicklungsprozesse zusammenzufassen; das geht denen, die 1988/89/90 in der DDR »dabei« waren übrigens genauso. Aber man kann es ja zumindest versuchen ...

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Gähn - nicht ob Deiner Beiträge, Stefanolix, sondern meiner Müdigkeit :-)


Später dazu mehr. Guts Nächtle!

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Ich mache jetzt auch Pause bis morgen abend. Und ich lasse bewusst im Unklaren, wodurch diese Pause erzwungen wird ;-)

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kann es sein,
das du schon bißchen riechst und überall rumstänkerst?

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Lieber Che, ich habe Dons Buch nicht gelesen, mich interessiert diese Zeit etc. einfach zu wenig, dass ich Bücher darüber lesen würde. Außerdem glaube ich, dass das alles in Büchern beispielsweise über den Eisenbahnbau schon aufgearbeitet ist. History repeating. Das mit dem Absolutheitsanspruch nehme ich Dir nicht ganz ab, was nicht böse gemeint ist, denn Menschen, die wie Du und ich aufgewachsen sind, die haben den Absolutheitsanspruch so dermaßen in sich aufgesogen, dass sie davon kaum abstrahieren können. Das ist das Erbe der alternativen Kulturen.

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Lieber Bandini, die alternativen Kulturen wurden ja gerade aufgebaut, um gewissen unmenschlichen Zügen der verdinglichten Gesellschaft etwas entgegenzusetzen, oft genug reproduzieren sie die aber. Doch das hängt damit zusammen, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt, (Adorno), oder noch konsequenter Jandl: Es gibt kein richtiges Leben im valschen.

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Das Geschäftsmodell einer ganzen Branche lautete “Found it, bring it up, sell it and run away”, die Unternehmen sollten kein sinnvolles Produkt und keine notwendige Dienstleistung anbieten, zumindest stand das nicht im Mittelpunkt, sondern Produkte und Dienstleistungen stellten nur die Kulisse dar für Geschäfte, bei denen es darum ging, nach dem Börsengang vom Verkauf der Aktien selber zu leben,

Die Fälle gab es weiß Gott oft. Und trotzdem ist dieses Geschäftsmodell nicht repräsentativ für alles und jedes, was in der NE unterwegs war. Da gab es durchaus Leute, die geglaubt haben, gerade ihr internetbasiertes Dingens brauche die Welt unbedingt. Und die sich über die Fremdkapital-Going-Public-und-Aktienoptionskiste eher wenig (oder gar zu wenig) Gedanken gemacht haben. Insofern, lieber Che, habe ich schon den Eindruck, dass Du Deinen (sicher völlig korrekt beobachteten) Teilausschnitt zu sehr für das Ganze hältst.

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Ich kann das auch hart machen: Der Teil der New Economy, den ich erlebt habe, ist die VC-Welt rund um die Softwareentwicklung zur Verschlankung industrieller Verfahren und der Logistik sowie das Falk-Imperium mit Ision, Sydios etc. pp. plus großen Softwaresystemhäusern plus Fun-Startups wie interzart und offenen Betrügern wie met@box. Ach ja, und nicht zu vergessen jenem Mobilfunkladen, den die Controllerin Pleite gehen ließ, weil sich aus der abwicklung der Insovenz mehr wert schöpen ließ als aus dem Tagesgeschäft.

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Ich hab Deine Version
ja überhaupt nicht bezweifelt. Ebensowenig, dass dergleichen wirklich in ganz großem Stil lief. Es ist halt nur nicht 1:1 kongruent mit dem, was mir so alles übern Weg lief. Und Deine Einlassung da oben liest sich halt ziemlich "so und und nicht anders".

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Stefanolix, ich greife Deine Frage mal auf: "Auch nachdem ich nun wirklich viel von Dir gelesen habe, kann ich eine so starke Rigorosität nicht verstehen. Verzeih' mir diese Frage am Abend, aber in was für einer Umgebung bist Du denn damals gewesen und warum hast Du Dich nicht aus dieser Verbohrtheit befreit?"


- Nun, die Umgebung war der Inner Circle der norddeutschen autonomen Szene. Diese rigoroistät war dort völlig normal. Ich ernnere mich an ein Gespräch, das ich mit meinem damals besten Freund führte, als der 27 war. Er studierte auf Lehramt und stand kurz vor Ende seines Studiums, und seine Eltern

hatten gemeint, dann würde er ja wohl bald aus unserer Wohngemeinschaft ausziehen, eine Wohnung für sich nehmen und gut verdienen. Er machte sich darüber listig und lästerte ab über die kleinbürgerlichen Vorstellungen seiner Eltern. Für ihn war klar, dass er weiterhin in einer WG leben wollte, denn erstens sei es richtig, mit Genossen eine gemeinschaftliche Wohnform (auch mit gemeinsamer Haushaltskasse) zu praktizieren, und zweitens benötige kein Mensch mehr als ein Zimmer für sich. Wenn er erst Studienrat wäre, würde er sein gesamtes Einkommen über das Existenzminimum hinaus in Form regelmäßiger Spendenzahlungen linken Organisationen, Dritte-Welt-Projekten und sozialen Einrichtungen zukommen lassen, und zwar dergestalt, dass die Überweisungen über Jahre fix seien, so dass er selbst sich nicht durch die Möglichkeit eines kurzfristigen Stornos in die Tasche lügen könne.

Nun, der selbe Mensch hat heute ein eigenes Haus und lebt in Ehe, sicherlich steckte hinter dieser Rigidität eine Menge postadoleszenter Überschwang und Abgrenzungsverhalten zu den Eltern, aber diese Grundahlatung, wenn auch bei weitem nicht so extrem, war für den Teil der autonomen Linken, den ich erlebt habe, durchaus typisch. Ich lehnt das alles ab, fand es ziemlich lebensfeindlich und sagte ungeniert "Ich stehe auf Luxus", das wurde als Anderssein akzeptiert, aber eher als eine Marotte betrachtet. Die Szene heißt ja nicht nur deswegen alternativ, weil sie weder für den Ostblockkasernenhofkommunismus noch für den Kapitalismus war, sondern weil die alternative Lebensform Programm war. Im Jetzt und Hier die neue Gesellschaft dadurch entwickelt, dass man andere Strukturen schafft war die Devise. Was heute in Form von Ökoläden, Headshops und Alternativboutiquen das Stadtbild von Kreuzberg, Hamburg-Schanzen- und Bremen Ostertorviertel oder Göttingen prägt ist heute mit einer Alternativbourgeoisie mit einer eigenen Spießigkeit verbunden, aber so war es am Anfang ja nicht angedacht. Ursprünglich ging es darum, eine Gegenökonomie zum Kapitalismus zu schaffen: Kollektive Betriebe, in denen nichtentfremdet gearbeitet wurde, und damit verbunden eine eigenständige soziale und wirtschaftliche Basis für die Linke. Sehr viele der heute gut verdienenden Ökobauern begannen als Landkommunen mit kollektivem Eigentum an Grund und Boden, freier Liebe innerhalb der Kommune und de Anspruch, Landwirtschaft nicht für einen Markt, sondern als Subsistenzwirtschaft zu betreiben.Die eigene Arbeitskraft und die eigenen Ressourcen dem kapitalistischen Verwertungsprozess zu entziehen wurde als wichtig betrachtet. So haben Westberliner und Amsterdamer Hausbesetzer versucht, längere Zeit ohne Geld zu leben, durch Spenden, betteln, klauen, Naturaltausch und Barterdeals.


Wie gesagt, ich habe das nie so rigoros gesehen und diese extremen Geschichten nicht mitgemacht, das betraf auch nur ganz Wenige, war aber der radikale Ausdruck einer Grundhaltung, die weiter verbreitet war. Aussteiger, Freaks oder aber Alternativunternehmer waren Trendsetter der Szene, wenn man nicht gerade Anwalt, Arzt, Journalist oder Wissenschaftler war und die alternativ-autonome Bewegungmit eigenen Mitteln unterstützte. Ein anderer Genosse von mir, eigentlich studierter Ethnologe und Sozialwissenschaftler, hat erst als Senner auf der Alm gejobbt und züchtet heute in Norwegen Huskies. Anders leben als die normale Gesellschaft, das war die Kernposition der nichtkommunistischen Linken in Westdeutschland. Das politische ist prvat, das private politisch. Wer einen solchen Anspruch leben will, landet dann sehr schnell da, jede Lebensentscheidung moralisch danach zu bewerten, ob sie mit der poltischen Grundhaltung vereinbar ist. Übrigens habe ich dies nur selten und in ganz bestimmten Phasen als Gruppendruck erlebt und viel stärker als innere Haltung. Als ich dann in dem NE-Unternehmen anfing zu arbeiten, hat mir ein alter Mitstreiter schriftlich die Freundschaft aufgekündigt und mich wörtlich als Verräter bezeichnet.Die anderen hatten damit keine Probleme, und auch, als ich die Lederkluft berufsbedingt mit dem Markenanzug tauschte zählte nur, dass ich meine Gesinnung nicht geändert hatte und weiterhin die Projekte der eigenen Leute mit Geld, gelegentlichen Publikationen, Anwesenheit auf Koordinationsplena usw. unterstützte. Der harte Kern aber hat den Weg der freiwilligen Armut gewählt.

Ich weiß nicht, was richtig ist. Ich stehe auf meinen eigenen Hedonismus, ich mache einen gut bezahlten Job in einem Schnittstellenbereich aus PR, Marketing, Wissenschaft und Politik, mag meine Arbeit und bin stolz auf meine Leistungen - aber manchmal überlege ich mir doch, ob ein prekär in einem Alternativprojekt lebender Genosse, der weniger verdient als ein HartzIVer und per Daumen in Urlaub fährt (bis nach Ubekistan) nicht konsequenter ist als ich.

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Your money isn’t gone, my friend. It’s just that someone else has it.
Ich habe die NE sozusagen am Rande miterlebt, und zwar als Verantwortlicher für Finanzen eines High-Tech-Unternehmens. Das Unternehmen selbst war sehr wenig NE, weil es schon (zumindest teilweise) Produkte und Kunden hatte und man die Produkte sogar anfassen konnte. Ich habe dieses Unternehmen auch verlassen, bevor der Hype so richtig los ging. Aber es war VC-finanziert, und weil ich mit diesen Leuten, Bankern, WPs und den Gründern selbst naturgemäß viel zu tun hatte, habe ich einiges davon mitbekommen, wie das System funktioniert.

Kollektiver Betrug? Ich würde eher sagen: Kollektiver Selbstbetrug. Betrug gab es drumherum natürlich auch - wie überall, wo viel Geld im Spiel ist. Aber das ist nichts Neues: "Berater", die Renditen von einem Mehrfachen des Marktzinses versprechen, fanden und finden immer noch mehr als Kunden. Das ist eben in einer Gesellschaft so, in der ökonomisches Grundwissen uncool ist - davon leben Politiker und Banken.

Es war ja damals nicht so, dass man nicht gewusst hätte, was zu tun wäre, um zum Schluss nicht als der Dumme dazustehen. Man hat nur entweder gemeint, das alles gelte plötzlich nicht mehr, oder man fände rechtzeitig einen anderen Dummen. Was da alles an interessanten Aspekten für Soziologen und Psychologen dahintersteckt, kann ich mir nur ausmalen.

Selbstbetrug, weil "Betrüger" und "Betrogene" weitgehend identisch waren - nicht als Person, aber als Gruppe. Dazwischen natürlich wie immer die Helfershelfer, die von einer guten "Konjunktur" profitieren, also im weitesten Sinn die "Berater", oder aber auch Gründer und Mitarbeiter, die mal eine Zeitlang ordentlich abgesahnt haben und ihre Schäfchen rechtzeitig ins Trockene bringen konnten. Leid tun mir höchstens die, die einem Bankberater, dem sie vertraut haben, ihre letzte Kohle für spekulative Papiere anvertraut haben - aber die Masse des Geldes konnte natürlich nur innerhalb der Gruppe der Vermögenden selbst umverteilt werden.

Gier war im Spiel? Natürlich, aber die war schon immer da und fand nur ein neues Ziel. Bilanzen erwiesen sich als Luftnummern? Wer sich mit sowas wirklich auskennt, konnte auch damals schon als Externer das Risiko sehen.

Es ist hier aber so wie z.B. mit der DDR: Die Behauptung, die Dinge seien schief gegangen, weil eine bestimmte Gruppe von Übeltätern am Werk war, verdeckt den Blick auf übergreifende Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge.

Denn der Hype hatte natürlich einen wahren Kern. Die Idee, dass im Internet-Geschäft derjenige absahnt, der seinen Marktanteil am schnellsten ausweitet, ist nämlich richtig. Wer ist die Nummer 2 im Online-Buchversand? Wer die Nummer 2 bei Internet-Auktionen? Wer die Nummer 2 bei (legalen) Musik-Downloads? Exakt: Die kennt keine Sau. Die reine "Internet-Ökonomie" ist zu großen Teilen eine "Highlander"-Ökonomie: Es kann nur einen geben. Damals wusste man nicht nur nicht, wer das sein würde, man wusste auch noch nicht so richtig, wo überall das Modell Erfolg haben könnte. Die typisch kapitalistische Reaktion darauf ist Versuch und Irrtum. Eine Menge rennen los, irren in alle möglichen Richtungen, Chaos entsteht, und wenn sich der Nebel über dem Schlachtfeld verzogen hat, sieht man klarer.

Normal. Wird auch wieder vorkommen. Und wenn bis dahin keiner mehr lebt, der die Lehre vom letzten Mal begriffen hat, und wenn das ökonomische Grundwissen weiterhin bei Null bleibt, dann werden auch wieder viele Leute viel Geld verlieren und hinterher von Betrug reden.

P.S. Speziell in Deutschland war der Hype zu einem nicht unwesentlichen Teil staatsgetrieben. Stichwort für die Insider: tbg.

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Noch son paar Stichworte: Schloss Elmau, Wirtschaftsminister Müller mit seiner Empfehlung, die eigene Rente in NE-Aktien anzulegen (oder war das der Riester gewesen?), diverse Ministerpräsidentenbankette für VCs und Gründer, Illusionstango bei der IHk.

Um keine Mistverständnisse aufkommen zu lassen: Selbstbetrug ist bei mir immer mitgedacht, der Zynismus kam bei uns erst auf, als man einsah, dass der eigene Laden vor die Wand laufen würde.Was die Nummer 2 angeht: Bol kennt man wohl noch. Meine Welt war aber eine andere. Wer ist die 2 bei den Warenwirtschaftssystemen? Wer die 2 bei den Anbietern von CRM? Wer die 2 bei Content-Management-Systemen? Ich würde behaupten, man kennt nicht nur SAP, sondern auch Baan. Aber vielleicht sehe ich DAS auch schon wieder zu sehr durch die Insider-Brille.

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CRM, Warenwirtschaft und CMS sind ja zwar Software, aber nicht "Internet-Ökonomie" im engeren Sinn. Von der Struktur her sind das eher "normale" Märkte.

Was Bol angeht: Sind die überhaupt noch Nummer 2? Zumindest gehören sie jetzt zu buch.de, sind als eigenständige Alternative zu Amazon also auch gescheitert.

Und die Baan-Software ist doch inzwischen in den Händen einer Firma, von denen wirklich noch keiner was gehört hat. Das allerdings hat wohl nichts mit Internet zu tun: Zu schnell wachsen zu wollen, ist auch außerhalb der NE ein üblicher Fehler.

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Die Firma ist eine sehr starke US-Fondgesellschaft, und Baan geht es unter neuer Führung richtig gut. Die Märkte mögen normal sein, die Mentalität der VCs und Neugründer in dem Umfeld zwischen 1998 und 2002 war es nicht. Ariba wäre auch so ein Beispiel.

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Ich will ja nichts gegen das Unternehmen sagen, das Baan jetzt hat. Nur kennen tut das da draußen kaum einer, und die Rolle, die Baan mal hatte, nämlich als "die" Alternative zu SAP, zumindest in Europa, die hat es wohl auch nicht mehr. Aber sei's drum.

Ja klar, Gründermentalitäten waren auch jenseits des Internets ähnlich. Und die VCs, die haben sogar schon vor 1998 so getickt. Aber jenseits des Internets ist man eben auch nicht so drastisch gescheitert, denn es gab ja meistens tatsächlich Produkte und Kunden, so dass der Kern des Geschäftes tatsächlich etwas wert war. Wenn auch nicht so viel, wie manch frisierte oder durch Firmenwerte aufgeblasene Bilanz einem glauben machen wollte....

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In dem Bereich, aus dem ich komme, gab es auch tatsächliche Produkte und Kunden, nur die Leistungsfähigkeit der Produkte und ihre Relevanz für den Markt wurde gnadenlos übertrieben, weil die Investoren die Produkte ab einem bestimmten Zeitpunkt (meistens 1998) nicht mehr als das Eigentliche, sondern nur noch als Mittel zum Börsengang ansahen und Letzteren als den großen Coup, nach dem man sich zur Ruhe setzen wollte.

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