Freitag, 31. August 2012
Zu den historischen Voraussetzungen des Awareness-Programms auf dem Nobordercamp
Um es vorauszuschicken: Ich finde Critcal Whiteness in bestimmten Kontexten sinnvoll. Zur Bewusstmachung von White Supremacy taugt das Konzept etwas, und was Noah Sow und Sesperado da mit ihrer Edutainment-Attacke machen finde ich hervorragend, ist bei mir ja auch in der Blogroll verlinkt, und ich habe deren Auftritt beim 25. Jahrestag des Flüchtlingsrats Niedersachsen sehr gut gefunden und dabei ja auch als Teil des zum aktiven Mitmachen einbezogenen Publikums engagiert mitgetragen. Für eine antirassistische Massenpädogogik ist das ein wunderbarer Ansatz.


Als analytische Methode zur Einordnung von Rassismus als Teil der Strategie von Herrschaft finde ich das Konzept allerdings nicht so gewinnbringend, da ist mir der Antirassismus des Neuen Antiimperialismus tiefgreifender - diese Cultural-Studies-geprägten Denkrichtungen kritisieren eben nicht den Kapitalismus an sich in einer Weise, die auf allgemeine soziale Revolte hinausläuft. Das wurde, freilich waren das ganz andere Leute mit einem sehr reduzierten CW-Verständnis auf dem Nobordercamp deutlich: Der zur Performance verkürzte Auftritt des RS-Umfelds sorgte für Krawall und Irritation (was ja nicht schlecht sein muss und gut sein kann), krachte aber hinein in die antirassistische Basisarbeit von Zusammenhängen, die seit Jahrzehnten aktiv sind und Rassismus, Sexismus, Kapitalismus und Imperialismus im Kontext angreifen. In diesem Zusammenhang sehe ich die Stellungnahmen meines alten Genossen Olaf

http://jungle-world.com/artikel/2012/30/45919.html


und die von Vassily Tsianos
http://jungle-world.com/artikel/2012/32/46024.html

und der Antifa Neukölln

http://de.indymedia.org/2012/08/333781.shtml

auch nicht, wie andernorts gemutmaßbehauptet

http://metalust.wordpress.com/2012/08/09/und-die-diskussion-schreitet-fort-nachschlag-zu-critical-whiteness-und-dem-antira-camp-bei-dem-ich-nicht-war

eben NICHT als Diskursbeherrschungsversuche von Privilegien verteidigenden Weißen (was Mbolo mir dazu erzählt hatte und auf der gleichen Linie lag natürlich erst recht gar nicht), sondern als Verteidigung der sozialrevolutionären Ausrichtung antirassistischer Kämpfe. Ein Genosse aus der Redaktion der Materialien für einen Neuen Antiimperialismus meinte mir gegenüber dazu:


"Das ganze erinnert mich an RAT (Racism Awareness Training), Bullenprogramm, das damals in den 1980er Jahren das Londoner Institut for Race Relation (ICC),
namentlich Sivanandan, heftig kritisiert hatte. Plötzlich musste man sich mit dem eigenen "Rassismus" etc. auseinandersetzen und sprachlich korrekt antworten und sich verhalten. Die Bullen haben trotzdem auf die Schwarzen eingeknüppelt und gesellschaftlich hatte sich nichts verändert. Außer dass man multikulturell aufgehübscht war. Klingt ganz ähnlich wie CW. Ein Selbstzerstörungsprogramm mit zugehörigen Hohepriestern der Exegese und
Exklusion. Die dauernde Identitätsfalle. Man muss diesen totalitären Reinheitszwang nicht unbedingt wiederholen".

Neugierig geworden las ich dann, was Sivanandan, den nun wirklich niemand als "weißen Privilegienverteidiger" bezeichnen kann dazu geschrieben hatte, und das beschreibt dann wirklich ein Counterinsurgency-Programm, ausgearbeitet im Thatcher-England, um (äußerst erfolgreich) den riots in den Ghettos die sozialrevolutionäre Stoßrichtung zu nehmen. Ethnisierung des Sozialen.

http://www.wildcat-www.de/material/m001siva.htm

Hervorgehoben:

"Der Rassismus wurzelt nach Auffassung von RAT in der weißen Kultur, und die weiße Kultur geht unbeeinflußt von materiellen Verhältnissen oder der Geschichte zurück bis zum Anfang der Zeit. Daher ist der Rassismus ein Teil des kollektiven Unbewußten, ein pränataler Schrei, eine Erbsünde. Daher können Weiße letztenendes niemals mehr sein als »antirassistische RassistInnen«. Sie sind sowieso schon rassistische RassistInnen, da sie schließlich in weiße Privilegien und Macht hineingeboren werden; aber wenn sie nichts daran ändern, sich (bewußt oder unbewußt) »einverstanden erklären« mit den institutionellen und kulturellen Praktiken, die den Rassismus verewigen, dann sind sie unrettbar verloren und bleiben rassistische RassistInnen. Wenn sie dagegen gegen solche Privilegien »die Waffen« - oder in diesem Falle RAT - »ergreifen und sie durch den Kampf beenden«, wenigstens in ihrem eigenen Leben, könnten sie wenigstens »antirassistische RassistInnen« werden. RassistInnen bleiben sie allerdings ein alle Ewigkeit. Dieses Argument ist ein Zirkelschluß und grenzt an genetischen oder biologischen Determinismus: Der Rassismus ist zusammengenommen die Kultur, und die Kultur ist weiß, und weiß ist rassistisch. Und die RATte kann nur aus diesem Teufelskreis ausbrechen, wenn sie die materiellen Verhältnisse zur Kenntnis nimmt, die den Rassismus erzeugen. Aber dann wäre sie nicht die RATte.

Aus demselben Grund meidet RAT die gewalttätigste, bösartigste Form des Rassismus, den Nährboden des Faschismus, den der weißen Arbeiterklasse - die, im Gegensatz zu dem, was RAT glaubt, genau deshalb rassistisch ist, weil sie machtlos ist, ökonomisch und politisch, und gewalttätig, weil die einzige Macht, die sie hat, die persönliche Macht ist. Es ist ganz klar, dass es hoffnungslos wäre, zu versuchen die Einstellungen und das Verhalten des ärmsten und verelendetsten Teils der weißen Bevölkerung zu verändern, ohne zunächst ihre materiellen Existenzbedingungen zu verändern. Aber wenn RAT das erkennt, wendet es sein Gesicht ab, und indem es vorgibt, so ein Rassismus sei extrem und außergewöhnlich, lehrt es die Lehrer, auch ihr Gesicht abzuwenden. Und an Innenstadtschulen, wo der Rassismus für das weiße Kind der einzige Spaß und die einzige Befreiung aus seiner hoffnungslosen Realität ist, heißt das, es zum Faschismus zu erziehen. [40] David Ruddell, Antionette Satow und sogar Schwarze wie Basil Manning und Ashok Ohri leugnen ausdrücklich die Bedeutung des Kampfes gegen die NF - mit der Begründung, eine so extreme Form des Rassismus sei nicht unbedingt die gemeinsame Erfahrung der meisten Schwarzen und mache es den Weißen auf jeden Fall zu einfach, den offenen Rassismus draußen zu bekämpfen statt des verdeckten in sich selbst, in ihrem täglichen Leben und in ihren Institutionen (womit in Wirklichkeit der Arbeitsplatz, die Freizeit usw. gemeint sind) (siehe Ruddell, Simpson 1982, Ohri, Manning, Curnow 1982). Aber der Grund dafür ist, dass sie, wie die AktivistInnen der Anti-Nazi League, wenn auch aus anderen Gründen, nicht die organische Verbindung zwischen Rassismus und Faschismus sehen. Martin Webster, der National Activities Organiser der NF, sah sie allerdings, als er erklärte, »die soziale Basis der NF besteht aus den Verzweifelten und Verdrängten unter der weißen Arbeiterklasse« (Webster 1979).

Und weil RAT alles außer der Mittelschicht ignoriert, macht es auch keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Rassismen der verschiedenen Klassen - dem nackten Rassismus der Arbeiterklasse, dem vornehmen Rassismus der Mittelschicht und dem ausbeuterischen Rassismus der herrschenden Klasse -, und sei es auch nur, um zur Bekämpfung der verschiedenen Rassismen verschiedene Strategien und Bündnisse zu schmieden.

Andererseits gleicht der Versuch, RAT dazu zu bringen, irgendetwas so politisches zu tun, dem Versuch, einem Ei die Haare auszurupfen, wie ein tamilisches Sprichwort sagt. RAT spielt mit der Politik, es ist ein Fälschung, ein Pseudo - ein Schwindel, der die Menschen denken lässt, sie würden eine Lawine auslösen, indem sie Kieselsteine bewegen, der aber in Wirklichkeit die Kieselsteine nur bewegt (wenn überhaupt), damit die Lawine nie kommt.

Und weil in Großbritannien schwarze Menschen an diesem Schwindel beteiligt sind - indem sie ihn eingeführt haben, praktizieren und reproduzieren - konnte RAT die schwarze Politik und die schwarze Geschichte mit Beschlag belegen und den schwarzen Kampf auf den Hund bringen. Denn wenn der schwarze Kampf in Großbritannien je etwas bedeutet hat, dann war es die Rückkehr der Politik in den Kampf einer Arbeiterklasse, die sich in den Ökonomismus verlaufen hatte, die Rückkehr der Gemeinschaft zur Klasse ([41]), das Schmieden von »schwarz« als einer gemeinsamen Farbe kolonialer und rassistischer Ausbeutung und die Ausweitung von antirassistischen Kämpfen zugleich auf den Antifaschismus und den Antiimperialismus.

Das gleiche gilt für den schwarzen und Dritte-Welt-Feminismus: Wenn er je etwas bedeutet hat, dann einerseits als Korrektiv gegen die Personalisierung der Politik und die Individualisierung der Macht in der weißen Frauenbewegung und andererseits als Versuch, eine Einheit des Kampfes zwischen Rasse, Geschlecht und Klasse zu schmieden. RAT (das sich in Großbritannien mit schwarzen Frauen, darunter ehemaligen Aktivistinnen, in seinen Reihen brüstet) arbeitet nicht nur in beider Hinsicht in die entgegengesetzte Richtung, sondern spiegelt und verstärkt, indem es die Frauen an Rassenlinien spaltet, die gegnerische feministische Tendenz, die »Rasse« an Geschlechterlinien zu spalten, und zersetzt den Kampf noch weiter. Solch eine Fragmentierung des Kampfes hilft zwar vielleicht dabei, mit der persönlichen Paranoia fertigzuwerden, die das Kapital auf unterschiedliche Art bei verschiedenen Gruppen hervorruft, aber beschäftigt sie mit der Suche nach ihren Ausschnittsidentitäten und lässt das Kapital selbst ungeschoren.

Genau aus diesem Grund müssen die Kämpfe der neuen sozialen Kräfte, selbst wenn es keine klassische Arbeiterklasse mehr gibt, die einen klassischen Klassenkampf führen könnte, sich auf die Zerstörung der Herrschenden Klasse konzentrieren - denn die gibt es, in welcher Verkleidung oder unter welchem Namen sie auch den jeweiligen Bewegungen erscheint: Patriarchat, weißer Rassismus, Atommafia, oder von den »neuen Marxisten« heraufbeschworen wird: Machtblöcke, Hegemonien, dominante Fraktionen. Und besonders jetzt, wo die technologische Revolution dem Kapital neuen Aufschwung gibt und zulässt, dass die Herrschende Klasse ihre Anwesenheit - in so vielen Inkarnationen - verstreut und de-simuliert, während sie ihre Macht über uns andere zentralisiert und konzentriert."


Das ist von 1985. Der Diskurs hat sich seither immer einfach nur rückwärts bewegt. Es ist zum Heulen.

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Wow! Das ist superstark. Sivanandan bringt (brachte) den HERRschaftlichen Zugriff auf den Punkt. Und damit wird auch deutlichst, wo der Unterschied zwischen liberalem Multikulturalismus und linksradikalem Antirassismus liegt. Es hat sich übrigens nichts rückwärts bewegt. Nur die Bloggerdebatten wissen nichts davon.

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Ich halte im Gegensatz zu den akademischen CW-Apologeten "Weißsein" für keine einheitliche Kategorie, aus der sich irgendetwas Beachtliches ergibt.

Und das ständige Zusammenrühren von "weißer Geschichtsschreibung", "weißer Geschichte" und "weißer Identität" halte ich für einen ziemlich üblen politischen Denkfehler - mithin sogar für eine Rassifizierung politischen Denkens. Denn, erstens, gibt es keine einheitliche "weiße Geschichtsschreibung", zweitens steht seriöse "weiße" Geschichtsschreibung auch nicht so eindeutig, wie es CW-Leute gerne hätten, im Gegensatz zu "schwarzer Geschichtsschreibung". Drittens gilt das Gleiche für "weiße" Geschichte und viertens ist auch "weiße" Existenz evielgestaltig. Nur der geringste Teil "der" Weißen hat überhaupt gesellschaftliche Macht. Und der Teil, der eine solche hat, und diese dann gezielt zur Unterdrückung speziell der "Schwarzen" oder "coloured people" einsetzt, dürfte nochmals separat zu analysieren sein - jedenfalls dann, wenn man es ernst meint mit der Analyse von Rassismus! Der Rassismus innerhalb der "machtlosen Weißen" (so nenne ich das jetzt mal) prägt sich auch in den unterschiedlichsten Formen aus und bewirkt auch jeweils sehr Unterschiedliches.

Die meisten Menschen sind, das ist meine Sichtweise jedenfalls, keine Rassisten. Sie also als solche prinzipiell zu denunzieren, halte ich für ausgesprochen kontraproduktiv, und zwar gerade dann, wenn einem Antirassismus wichtig ist. Und ob Rassismus (echter Rassismus) innerhalb von schwarzen oder coloured people wirklich seltener ist als innerhalb der ziemlich heterogenen "weißen" Mehrheitsgesellschaft: Sogar das bezweifele ich. Sorry. Sicher bin ich mir aber dabei:

Die CW-Apologeten schaden dem antirassistischen Kampf eher, als sie diesem nutzen. Zur Zeit ist das jedenfalls so. So nützlich manche Diskussion war/ist, so verfehlt, in ihrer primären Stoßrichtung und politischen Wirkung war so Vieles, was CW-Apologeten bislang einbrachten. Wenn es aber darum geht, politische Aggression gegen aktive Antirassisten auszüüben, dann muss man den CW-Verfechtern zweifelsohne gratulieren...

@ Workingclasshero

Ich finde, Sivandan versagt vor allem an einem Punkt: Er will die führenden/herrschenden Schichten bzw. Klassen tatsächlich im Sinne altlinker Vorstellungen vollkommen verdrängen bzw. gewaltsam eliminieren.

Ich halte es für interessanter zu fragen, wie mensch Macht entmachten kann- und wie die weit überwiegende und weitgehend besitzarme Bevölkerungsmehrheit gestärkt werden kann, wie wir für Menschen und ihr Leben mehr Wahlmöglichkeiten schaffen können. Wie man destruktive Herrschaftsmechanismen (z.B. Rassismus und exkludierende gesellschaftliche Praktiken) außer Kraft setzen können.

Das ist imho eine im Schwerpunkt andere Fragestellung. Und imho die intelligentere Zielsetzung.

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Doc Dean, Du Unerleuchteter,
das ist doch nur wieder Deine übliche denial-and-derailing-Nummer. ;-))

Es ist halt mit Critical Whiteness wie mit so vielem: Wer nichts hat als einen Hammer, dem erscheint die gaze Welt als (schwarzweißer) Nagel. Aber die strukturellen Privilegien, die mit dem Weißsein verknüpft sind, sind ja nicht deswegen inexistent, nur weil es noch andere, übergeordnete Klassenfragen gibt. Wir landen da womöglich wieder (je nach Fokussierung) bei der Frage nach den sogenannten Nebenwidersprüchen und der Frage, ob sich die Lage der Frauen und anderweitig Benachteiligten automatisch bessert im Zuge des allgemeinen Klassenkampfes oder ob das jeweils besonderer Anstrengungen bedarf.

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Das ist gerade nicht die Frage nach den Nebenwidersprüchen, sondern eher die nach der Mehrfachunterdrückung bzw. dem in sich zusammenhängenden 3 zu 1 Widerspruch.

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OK,
das ist nicht das gleiche, berührt aber die gleiche Fragestellung.

Ansonsten bin ich etwas unschlüssig, was ich aus dieser RAT-Geschichte mitnehme im Hinblick auf die Frage nach der Relevanz von Critical Whiteness. Die Gefahr ist durchaus gegeben, dass bei einer Überfokussierung des Weißseins und was da alles dran hängen mag, andere, womöglich wichtigere Fragen ausgeblendet bleiben und notwendige Aktionen unterbleiben, während man sich in irgendwelchen frommen Lippenbekenntnissen übt.

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Vielen Dank für die Verlinkung des Textes von Ambavalaner Sivanandan; die Genealogie dieser racism awareness ist äußerst lehrreich. Wobei du das Zitat, das die ganze Argumentation auf den Punkt bringt, ausgelassen hast:
"Die weiße Linke reißt den Begriff »schwarz« aus dem Zusammenhang der Kämpfe, unter deren Schlägen er zu einer politischen Farbe wurde, und glaubt, jede selbstsüchtige Gruppe aus der Mittelschicht, die sich selbst »schwarz« nennt, habe automatisch das Recht, sich diese Geschichte anzueignen, und sei automatisch politisch oder fortschrittlich."
Dennoch, es gibt Gründe, warum der Text von 1985 und nicht von heute ist. Sivanandans Perspektive kann heute nur noch unter grober Verkennung der Verhältnisse eingenommen werden. Sein Standpunkt ist der einer unterdrückten und ausgebeuteten Arbeiterklasse (die bei ihm ausdrücklich die Frauen mit einbezieht) - sowohl in den kapitalistischen Metropolen wie auch in den (ehemaligen) Kolonien. Antikolonialer Kampf und antirassistischer Kampf bilden aus seinem Blickwinkel eine Einheit, in der sich ein revolutionäres Klassenbewußtsein herausbilden soll.

Vom antikolonialen Kampf, in dessen Kontext der antirassistische der arbeitenden Migranten zu sehen ist, ist nicht mehr viel übriggeblieben. Heute ist man ja schon fast geneigt, den Befreiungsnationalismen von vor 30 Jahren nachzutrauern, angesichts dessen, wie sich heute die durch das Elend provozierte Gewalt in "ethnische" oder "religiöse" Auseinandersetzungen kanalisieren läßt. Die Hoffnung eines gemeinsamen Kampfes gegen die Zentren der kapitalistischen Macht war schon Mitte der 80er, als Sivanandan seinen Aufsatz schrieb, nur mehr ein blasser Schatten. Und mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde eine derartige vereinheitlichende Perspektive endgültig von der politischen Tagesordnung gestrichen.

Den ganz unterschiedlichen Formen rassistischer Unterdrückung, die von grobschlächtig bis subtil reichen, fehlt inzwischen die Gemeinsamkeit, die eine Perspektive für die Vereinheitlichung der Kämpfe bilden könnte. Natürlich ist die schwarze Universitätsabsolventin ebenso Opfer rassistischer Diskriminierung wie ein Bootsflüchtling, der es mit knapper Not an die europäische Küste geschafft hat. Doch aus den ganz unterschiedlichen Formen des erlittenen Rassismus läßt sich keine gemeinsame politische Perspektive mehr ableiten, die zu einem gemeinsamen politischen Kampf führen würde.

Und weil es eine derartige Perspektive nicht mehr gibt, treffen auf einem derartigen Camp völlig inkompatible Strategien aufeinander - von Critical Whiteness bis zu Sozialarbeit mit Flüchtlingen. Und da hilft ein Text wie der von Sivanandan leider auch nicht weiter; einzig ließe sich noch argumentieren, daß Gruppen wie Reclaim Society, die es von vornherein auf Spaltung statt auf Vereinheitlichung abgesehen haben, ausgeschlossen gehören. Aber da habe ich genug politische Erfahrung in linken Sektenzusammenhängen, um zu wissen, daß ein solch rigoros-autoritäres Vorgehen nicht durchsetzbar ist.

Schade eigentlich: Wenn man das mit den Freunden des bewaffneten Kampfes in den 70ern oder den Antideutschen in den 90ern gemacht hätte, wäre die linke Diskussion vielleicht ein paar Schritte weiter.

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Inwieweit der Text von Sivanandan nicht weiterhilft, diese Frage bleibt für mich erstmal offen. Klar war die Kampfperspektive im Thatcher-England noch eine andere, und er ist als gebürtiger Tamile noch persönlich eingebunden gewesen in postkoloniale Kämpfe. Trotzdem ist seine Perspektive zumindest adaptierbar, wenn auch nur auf die Mikroebene der Flüchtlingskämpfe bezogen. Die Antira entstand ja überhaupt nur, weil wir etwas mit den Flüchtlingen zusammen machen wollten und die nicht einfach als die ansahen denen zu helfen war. Wesentlicher Unterschied zur klassischen Antifa-Perspektive. Ich halte Sivanandan auch generell für einen der grundlegendsten antirassistischen Autoren.




http://www.kaupapamaori.com/assets//TakiM/kaupapa_maori_and_contemporary_chpt7.pdf


1991: Swedish racism – the democratic way. in: A. Sivanandan (Hrsg.): Europe: Variations on a Theme of Racism. Institute for Race Relations, London 1991

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Versteh' mich nicht falsch. Ich halte den Text für ausgezeichnet und werde mir wohl noch mehr von Sivanandan zulegen. Und sein marxistischer Ansatz ist mir grundsympathisch.

Aber das ist ein beinahe 30 Jahre alter Text, der im historischen Kontext gelesen werden muß und nicht einfach auf eine deutlich veränderte Gegenwart übertragen werden kann. Selbst wenn wir "critical whiteness" als äußerst verengten Antirassismus einer akademischen Mittelschicht kritisieren, ist Sivanandans Bezugnahme auf eine immigrantische Arbeiterklasse keine Alternative.

Um's nur ganz banal an einem Punkt festzumachen: Wann ging es in der antirassistischen Arbeit zum letzten Mal um die Verbesserung von Arbeitsbedingungen für Migranten? Wenn, dann geht es darum, daß diese überhaupt erst einmal eine Arbeitserlaubnis erhalten. Oder bei der Jobsuche wegen ihres Aussehens oder Namens nicht von vornherein übergangen werden. Dagegen gibt es die Fabriken, in denen hauptsächlich migrantische Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigt werden, so nicht mehr. Höchstens im Baugewerbe oder in der Landwirtschaft findet sich so etwas noch; doch daß dort migrantische Kämpfe existieren würden und diese gar von Antira-Gruppen unterstützt würden, wäre mir neu.

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@"Dagegen gibt es die Fabriken, in denen hauptsächlich migrantische Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigt werden, so nicht mehr. Höchstens im Baugewerbe oder in der Landwirtschaft findet sich so etwas noch" ----- Na, dann schreibe ich mal was über das, was ich im Baugewerbe so erlebt habe. Übrigens ist nahezu der gesamte Bereich der Pizza- und Döner- Bringdienste und zugehöriger Küchen in migrantischen Händen, ebenso wie Schrottplätze, und da gibt es ethnisch gestaffelte Schwarzlöhne (7 Euro für Kurden oder Araber, von 3 Euro abwärts spricht man vom "Tamilentarif"). Antira-Gruppen kümmern sich durchaus um so etwas, aber nicht öffentlich.



In den Neunzigern hat es in Italien sogar Streiks von Illegalen um die "Tarife" ihrer Schwarzlöhne gegeben.

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aus dem aktuellen ak: http://www.akweb.de//ak_s/ak575/23.htm

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Danke dafür, das ist pures Gold!

Werde das gleich mal oben verlinken, im Sinne von "Nach vorne diskutieren".

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