Dienstag, 11. Juli 2006
Bloggen und Kommerz
Amüsiert las ich gerade in der deregulierten Sonderwirtschaftszone der deutschen Blogosphäre, dass da jemand nicht verstehen kann, wieso sich viele Blogger darüber aufregen, wenn andere Opeltester spielen oder das Coca-Cola-WG-Projekt dissen, und vermutet, dass da Neid im Spiel sei. Nun, derjenige, um den es da an vorderer Stelle geht, befindet sich eher in einer Position, um die ihn andere beneiden, könnte, wenn er wollte, eine Leben wohl auch so einrichten, dass er nie mehr arbeiten müsste, ist dafür aber viel zu aktiv. Symptomatisch für ein bestimmtes gesellschaftliches Spektrum scheint mir, und das finde ich ebenso erschreckend wie bezeichnend, dass Nichtkommerzialität für diese Leute gar nicht mehr denkbar ist.
Entsprechend fremdartig muss ihnen wahrscheinlich jeder Idealismus anmuten.
Bloggen, das ist Rocken und Rappen, das ist ein großes Umsonst & Draußen - Konzert, bei dem jeder aus dem Publikum auch mal auf der Bühne steht. Bevor es Blogs gab, hat unsereins alternative Medien herausgebracht, und wir haben mit unseren Print--Theater- und Hörfunkproduktionen kein Geld verdient, sondern Geld ausgegeben, um Drucken, Spielen und Senden zu können. Wie ein immer weiter stattfindender Kolonisationsprozess hat die fortschreitende Kommerzialisierung immer weitere Bereiche der gesellschaftlichen Reproduktion und der Entfaltung persönlicher Freiheit durchkapitalisiert. War es, wenn man den allgemeinen Konsum verweigerte, in den 70er und 80er Jahren noch ganz gut möglich, mit sehr wenig Geld zu leben - Gelegenheitsarbeit und Sozi, die wenig kontrolliert wurde, Leben in besetzten Häusern, die, wenn sie nicht als Politprojekt an die große Glocke gehängt wurden, oft Monate oder Jahre mietfrei bewohnt werden konnten, so stellt sich diese Alternative heute nicht mehr. Anstelle von Aussteigern, die sich für die freiwillige Armut entschieden haben, führt die Durchkapitalisierung aller Lebensbereiche dieser Gesellschaft vermehrt zur Perspektive "Mitmachen oder Zwangsarbeit", wobei das Mitmachen keineswegs vor Deklassierung in die Armut schützt. Man schaue sich einmal an, was früher Stadt- und Stadtteilfeste waren und was das heute ist: Einst von den Bewohnern spontan und teils zäh gegen behördliche Auflagen durchgesetzte nichtkommerzielle Open-Air-Feten der Alternativkultur, heute von Eventagenturen abgewickelte Großveranstaltungen der Kneipenbetreiber, ohne die ihr Jahresumsatz nicht mehr planbar wäre. Da bleibt die Blogosphäre einer der wenigen noch freien Räume, wenn auch wohl leider nicht mehr lange. Ohne Protest und Widerstände sollte er nicht hergegeben werden. Über Blogger, die sich prostituieren, habe ich mich nicht ausgelassen und werde es weiterhin nicht tun, denn anlässlich Abschiebungen, Welthunger, Rassismus und ähnlichen Problemen einerseits und den Dingen, die mich im Positiven umtreiben erschiene mir das als Zeitverschwendung. Auf einem anderen Blatt steht, was ich darüber denke, dass sich Blogger dafür hergeben.

... link (11 Kommentare)   ... comment


Madrid in Bombay
Jetzt hat also Indien der Terror vollgetroffen, nicht Deutschland, für das es wegen der WM eindeutige Befürchtungen gab. Mein Mitgefühl ist mit den Opfern; solange allerdings die gesellschaftlichen und politischen Ursachen ohne Lösung bleiben, wird es weitergehen. Mit Gewalt allein wird sich der Terror niemals bekämpfen lassen.

... link (1 Kommentar)   ... comment


O Tempora, o musica!
Kürzlich meinte ich zu einem jüngeren Studenten, mit dem ich im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit zu tun habe, dieses Dideldum-Lied "Hübsches Ding" von Seed würde ich zumindest beim Autofahren ganz gern hören, obwohl das ja eigentlich nicht meine Musik sei. Er erwiderte, das fände er richtig gut, halt astreiner Reggae. Reggae? Das mir altem Chalice- und Peter Tosh-Hörer?! Ist demzufolge die Blasmusik der Dorfkapelle von Hintertux gleichzusetzen mit Klassik? ;-)

... link (13 Kommentare)   ... comment


Die Integratonslüge oder die Abschiebung der Vollintegrierten
Caritas-Rechtsanwalt kritisiert Umgang mit Flüchtlingen



Der Umgang mit lange in Deutschland lebenden, gut integrierten
Flüchtlingen beschäftigt seit Monaten die Öffentlichkeit. Als
einer der Hardliner unter den Bundesländern gilt das CDU-geführte
Niedersachsen, das die Abschiebepraxis verschärft hat und das
Zuwanderungsgesetz restriktiv auslegt. Der Kurs von Innenminister
Uwe Schünemann (CDU) stößt bei den Kirchen auf scharfe Kritik. In
einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA)
äußerte sich der Rechtsanwalt und Caritas-Fachberater Bernd
Waldmann-Stocker am Montag in Göttingen zur Situation.



KNA: Herr Waldmann-Stocker, welchen Schutz genießen langjährig
geduldete Flüchtlinge?



Waldmann-Stocker: Die Kinder werden in einer extrem unsicheren
Situation geboren. Ihre Eltern haben keinen gesicherten
Aufenthaltsstatus. In der Öffentlichkeit wird dies bisweilen
dramatisiert: Wenn kein rechtlicher Aufenthalt erteilt wird, sind
die Betroffenen Illegale.



KNA: Was ist für Sie gelungene Integration?



Waldmann-Stocker: Auf der einen Seite verlangen wir von den
Flüchtlingen, dass sie sich anpassen, die Sprache lernen und so
weiter. Ich kenne zahlreiche Fälle, in denen es die Kinder
schaffen, Deutsch zu lernen und sich auf der Schule zu
profilieren. Sie durchlaufen Realschule oder Gymnasium, teilweise
auch noch mit großartigen sportlichen Leistungen oder sozialem
Engagement. Doch dann kommt von oben der große Hammer: Die
Abschiebung soll vollzogen werden. Die offizielle Seite sagt, die
Eltern hätten ihre Kinder von vornherein darauf vorbereiten
müssen, zurück zu gehen. Ich lasse offen, ob der Staat hier
schizophren oder verlogen ist. Es kommt nicht von ungefähr, dass
Aufenthaltsgesetz und Ausländerrecht historisch aus dem
Polizeirecht kommen. Das heißt, es geht um «Gefahrenabwehr». Das
ist historisch überholt, hat sich aber noch nicht im Denken und
in den Gesetzen niedergeschlagen.



KNA: Wem sollen Bürger, Initiativgruppen und Betroffene auf die
Füße treten?



Waldmann-Stocker: Man kann den Schwarzen Peter schon den
jeweiligen Landesinnenministerien zuspielen. Ein Beispiel: Im
Aufenthaltsgesetz gibt es eine neue Bestimmung, wonach einem
Menschen trotz Ausreisepflicht eine Aufenthaltserlaubnis erteilt
werden kann, «wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder
tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall der
Ausreisehindernisse in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist».
Viele jubelten, das sei das Vehikel, um die Kettenduldung
abzuschaffen. Aber was wurde daraus gemacht? In Niedersachsen
gibt es eine Verwaltungsvorschrift, in der die Bestimmung für die
Ausländerbehörden interpretiert wird. Wenn es für einen
Flüchtling möglich ist, Deutschland zu verlassen, geht daraus
hervor, spielt die Frage der Zumutbarkeit keine Rolle mehr. Das
heißt, sie wird in Niedersachsen herausgefiltert. Ist es
vertretbar, langjährig geduldeten Kindern eine Abschiebung in das
Heimatland ihrer Eltern zuzumuten? Sie kennen weder Sprache noch
Land noch Kultur.



KNA: Wie ist die Interpretation in anderen Bundesländern?



Waldmann-Stocker: In Rheinland-Pfalz oder Mecklenburg-Vorpommern
kann man im Einzelfall sehr wohl noch etwas machen - basierend
auf dem gleichen Bundesgesetz. Darüber hinaus gibt es Länder, die
in diesem Punkt keine Vorgaben machen, etwa Thüringen.



KNA: Was sagt Schünemann dazu?



Waldmann-Stocker: Er wird auf das Oberverwaltungsgericht in
Lüneburg verweisen. Da wurde entschieden, auf die Frage der
Zumutbarkeit komme es nicht an. Das überzeugt mich in keiner
Weise. Jeder Rechtsanwalt weiß, dass sich das Innenministerium
bei Bedarf über Gerichtsentscheide hinwegsetzt. Die Begründung
lautet dann schlicht: Wir sehen das anders.



KNA: Die Caritas sagt: Integration beginnt im Kopf. Der
Hildesheimer Bischof Norbert Trelle hat angemerkt, Integration
dürfe keine Notlösung sein, sondern müsse im Herzen beginnen.



Waldmann-Stocker: Das kann ich unterschreiben. Es prägt natürlich
auch das Miteinander - der zu Integrierenden und aller, die
wünschen, dass Menschen integriert werden. Wenn wir es im Kopf
beschließen, dann können trotzdem heimliche Vorbehalte bleiben.
Ganz anders, wenn wir es von Herzen wollen. Es muss daher beides
beteiligt sein: Kopf und Herz.



KNA: Ist es nicht Zeit für eine bundeseinheitliche Lösung?



Waldmann-Stocker: In Berlin sagt man hinter vorgehaltener Hand,
die Frage würde dieses Jahr noch geklärt. Das kennen wir nun
schon seit Jahren. Bei jeder Innenministerkonferenz gibt es das
Ritual, dass am Schluss Bayern und Niedersachsen die Bösen sind,
weshalb es wieder zu keiner Übereinstimmung kommt. Keiner von uns
hat je ein Duldungsformular mit dreiwöchiger Verlängerungsfrist
in den Händen gehalten, geschweige denn war existenziell davon
abhängig. Wir müssen geduldig Einzelschicksale aufzeigen und
vehement darlegen, dass sie stellvertretend für viele stehen.



KNA: Nützt den Menschen Öffentlichkeit?



Waldmann-Stocker: Sie müssen teilweise sehr persönliche Details
preisgeben, um Betroffenheit zu erhalten. Ich weigere mich aber,
an Aktionen mitzuwirken, die Einzelpersonen instrumentalisieren -
vor allem, wenn nicht klar ist, ob eine anschließende Betreuung
sicher gestellt ist, wenn das gewünschte Ergebnis nicht sofort
kommt. Das hat ja eine enorme psychische Dynamik. Ich setze mich
allerdings auf jedes Podium und vertrete die Betroffenen. Das
können und tun die Kirchen und der Caritasverband auch.



Interview: Bernd Buchner (KNA)

... link (0 Kommentare)   ... comment


Der Lagerkomplex
Flüchtlinge, Bramsche-Hesepe und die Freiwillige Ausreise

Die äußeren Grenzen Europas werden immer undurchlässiger für Menschen, die sich auf der Flucht befinden oder zu Migration gezwungen sind. Doch auch innere Grenzen existieren, die nicht weniger schwierig zu überwinden sind, auf dem Weg zu einem Leben in Würde. [Der Lagerkomplex] zeigt eine dieser inneren Grenzen: das Lager. In der scheinbar ländlichen Idylle des Osnabrücker Land befindet sich im Ort Bramsche-Hesepe Deutschlands größtes Abschiebelager mit dem Schwerpunkt der sogenannten Freiwilligen Ausreise. Wie äußert sich diese innere Grenze im sicheren Hinterland? Was passiert mit den dort untergebrachten 550 Flüchtlingen und wie gehen diese Menschen mit der Situation um? Was bedeuten Lager für die Regionen und welche Rolle spielen sie im nationalen und europäischen Zusammenhang? [Der Lagerkomplex] lässt Menschen erzählen, was Lagerleben bedeutet. Betrachtet von innen und außen; von Flüchlingen selbst und von Personen aus Wissenschaft, Medizin, Verwaltung und Zivilgesellschaft. Dabei zeichnet sich ein Bild ab, bei dem der Ausnahmezustand die Normalität beschreibt.


Der Film kann ab sofort bestellt werden. Für nähere Informationen liegt ein PDF-Dokument unter

http://www.kinoki-now.de/ankuendigung-dvd.pdf

bereit.

... link (2 Kommentare)   ... comment