Dienstag, 25. Juli 2006
Und nochmal zum sozioökonomischen Hintergrund von Hamas & CO
che2001, 14:10h
Die Fatah - Basis besteht überwiegend aus säkularen palästinensischen Sunniten und Christen, ihre Führung entstammt deren traditioneller städtischer Oberschicht (Ärzte, Anwälte, Bankiers), Hamas wurde mit sehr viel saudischem Geld gegen die palästinensische Linke aufgebaut, rekrutiert sich im Schnitt aus ärmeren Leuten als die Fatah und hat umfangreiche soziale Selbsthilfenetzwerke aufgebaut, die sie für die kleinen Leute interessant machen. Das ist nicht nur eine Gruppe religiöser Eiferer mit einem terroristischen Arm, sondern auch eine karitative Organisation, und zwar beides gleichermaßen. Die palästinenssische Linke (Kommunistische Partei Palästinas, Fida, PFLP, DFLP) setzt sich eher aus akademischer Intelligenz und Exil-Palästinensern 8vor allem Christen) zusammen. Auf den Ölbohrstellen in der arabischen Welt stellten in den 70er und 80er Jahren die Palästinenser die zahlenmäßig stärkste Gruppe der Arbeiter, und die palästinensische Linke war bemüht, sie gewerkschaftlich zu organisieren und auch Forderungen nach politischer Partizipation zu stellen (in mittelalterlichen Despotien wie Saudi Arabien und bei den öligen Emiren!). Der Aufbau von Hamas und Djihad gegen diese Gruppen richtete sich eigentlich gegen diese soziale Bewegung der Palästinenser im Exil. Durch die erste Intifada bekamen sie dann eine Basis in den besetzten Gebieten. Neben unmittelbarer Selbsthilfe und der Verbesserung der Lebenssituation im Alltag richtet sich Hamas vor allem gegen die Korruption und Filzokratie der Fatah-Oligarchie - also Hamas in den selbstverwalteten und den besetzten Gebieten, die oberste Hamas-Führung im syrischen Exil ist eine Honoratioren-Versammlung aus religiösen Fanatikern. Das Ganze ist dann verbunden mit Kämpfen um Wasser und Weideflächen (Der Zaun trennt die Quellen der Flüsse und die fruchtbarsten Weiden von den palästinensischen Autonomiegebieten weitgehend ab). Wichtiger Zankapfel ist auch die Frage nach dem Rückkehrrecht: Da PFLP und DFLP mehr Mitglieder im Ausland (inklusive Tunesien und selbst Deutschland) als in den besetzten bzw. Autonomie-Gebieten haben, ist für sie, allein schon aus wahlarithmetischen Gründen, das Recht auf Rückkehr der Palästinenser im Exil absolut zentral, der bodenständigen Fatah kann das egal sein. Die Spaltung unter den säkularen Palästinensern - hier Fatah und PLF, dort die widersinnigerweise zeitweise sogar mit der Hamas verbündeten PFLP und DFLP - erklärt sich vor allem über diese Frage. Wobei in Israel bisher gilt, dass man über Rückkehrrechte auf keinen Fall mit sich verhandeln lässt.
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mmarheinecke,
Dienstag, 25. Juli 2006, 15:29
Vor diesem Hintergrund wird Einiges verständlich
Weil Hamas ürsprünglich den linken Palästinenserorganisationen das Wasser abgraben sollte, überrascht die Ähnlichkeit dieser vielschichtigen Organisation mit faschistischen Organisationen überhaupt nicht: ähnliche Funktion (Moblisierung der Massen, ohne die grundlegenden ökonomischen Machtverhältnisse zu bedrohen) ähnliche Ausprägung. Weil die linken Palestinerser offensichtlich "westlich" beeinflußt sind (Menschenrechte, politische Mitwirkung, sekulärer Staat und anliche, angeblich mit den "arabischen Tradionen" unvereinbare westliche Ketzereien), muss sich eine gegen sie gerichtete Organisation notwendigerweise antiwestlich und kulturrelativistisch geben. Weil so Einiges im Hamas Weltbild offensicht widersprüchlich ist, müssen die "Ecken und Kanten" mit Verschwörungstheorien kaschiert werden. (Die Hamas-Charta liest sich infolgedessen wie ein Auszug aus "van Helsings" als volksverhetzend indizierter Weltverschwörungsschwarte "Geheimgesellschaften und ihre Macht im 20. Jahrhundert".) Es muß auch das
"Feindbild" vereinheitlicht werden - weshalb Hamas offen ist für (überwiegend importierte) antisemitische "Theorien".
"Feindbild" vereinheitlicht werden - weshalb Hamas offen ist für (überwiegend importierte) antisemitische "Theorien".
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che2001,
Dienstag, 25. Juli 2006, 15:44
Ganz recht, wobei diese antisemitischen Theorien von Leuten vertreten werden, die in einem viel engeren Sinne Semiten sind als die Israelis, deren weit überwiegende Mehrheit als Solche ja gar nicht bezeichnet werden können. Anyway, das ist egal - entscheidend ist, was hinten bei raus kommt. Hamas oder hamas nich, generell ist in der arabischen Welt ein Judenhass mit rassistischen und paranoiden Zügen durchaus weiter verbreitet. So begrüßten mich in Ägypten Leute mit "Heil Hitler". Völlig entsetzt fragte ich, wie sie denn darauf kämen und erfuhr, dass Hamdi Durchschnittsägypter glaubt, Hitler sei ein deutscher Präsident gewesen, der einen siegreichen Krieg gegen Israel geführt hätte, dann aber von Briten und Amis besiegt wurde. Ich weiß nicht so genau, wie solche Vorstellungen entstehen, aber in einem Land, in dem der Geschichtsunterricht von den Pyramiden bis Saladin reicht, die Großelterngeneration aber noch weiß, dass Rommel gegen die verhassten britischen Besatzer kämpfte
(und das kommt in der oral history rüber wie ein verhinderter Befreier vom Kolonialjoch, dass Araber als "Nichtarier" unter deutscher Fremdherrschaft nichts zu lachen gehabt hätten, so weit reicht die Denke nicht, auch von den Rassentheorien haben die nie was gehört) kulminiert solch ein Schwachsinn irgendwie zusammen.
(und das kommt in der oral history rüber wie ein verhinderter Befreier vom Kolonialjoch, dass Araber als "Nichtarier" unter deutscher Fremdherrschaft nichts zu lachen gehabt hätten, so weit reicht die Denke nicht, auch von den Rassentheorien haben die nie was gehört) kulminiert solch ein Schwachsinn irgendwie zusammen.
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truthcomeslast,
Dienstag, 25. Juli 2006, 17:00
Vor diesem Hintergrund wird auch einiges verständlich
Es stimmt, daß z.B. in Ägypten faschistisches Gedankengut (vor allem natürlich diejenigen Elemente, die sich gegen Israel und die Juden ideologisch verwenden lassen) weit verbreitet ist; ich bin auch schon mit „Heil Hitler“ begrüßt worden, neben Ägypten übrigens auch in Usbekistan, in der Türkei, in Syrien und in Jordanien, und es war mir – als Deutschem – gegenüber immer positiv und aufmunternd gemeint.
Als ich einst in Syrien studierte, lernte ich einen Hausmeister an der dortigen Uni kennen, der mit Vornamen „Hitler“ hieß. Ich wollte es nicht glauben, aber auf meine Nachfrage hin zeigte er mir seinen Ausweis und da war als Vorname tatsächlich „Hitler“ eingetragen. Ein Kebab-Laden in der Altstadt, wo ich öfters hinging, wurde von einem alten Herrn betrieben, der uns – als Ausländer und als Deutsche – natürlich bald erkannte und nach einigen Wochen immer schon von weitem begrüßte. Das sah dann so aus:
Er stand hinter seinem Kebab-grill, der vor ihm wie ein Grilltischchen aufgebaut war, auf dem die Fleischspießchen brutzelten, und als er uns nahen sah, streckte er die Hand mit der Fleischzange nach oben, ließ sie von oben über seine grillenden Spießchen fahren und rief dabei: „bubububu-bummmm! bubububu-bummm!, womit er offensichtlich einen Stuka-Angriff oder so etwas ähnliches darstellen wollte. Das war sehr freundlich gemeint. Und noch etwas: Arabische Ausgaben von „Mein Kampf“ (arab. Kifâhî) findet man in fast allen Buchhandlungen zwischen Damaskus und Kairo.
Soviel dazu. ABER:
Das ist zwar eine schlimme Wahrheit, aber eben nicht die ganze Wahrheit. Um noch einmal auf das Beispiel Ägypten zurückzukommen:
Wenn man sich in Kairo in den Bus setzt und nach Giza hinaus zu den Pyramiden fährt, dann kommt man irgendwann entweder zum Mena House Oberoi, einem 5-Sterne Hotel neben den Pyramiden, oder in den Ort Giza. Ich empfehle, zum Ort Giza zu fahren. Der Ort Giza besteht im wesentlichen – abgesehen von den Souvernirläden direkt am Eingang zum Pyramiden-Gebiet – aus ganz einfachen Lehm-Häuschen, worunter sich aber auch zusammengezimmerte Blechhütten finden (aus dem Blech von Ölkanistern, meistens).
Die Straßen sind mit Ausnahme der Hauptstraßen nicht geteert, und die dortigen Kinder spielen buchstäblich im Dreck. Die Kanalisation, die nur bedingt verfügbar ist, funktioniert nicht, und oft muß man über kleine aufgestellte Konservendosen über den überschwemmten Boden balancieren. Die Bedingungen der Bewohner sind hanebüchend; dort wächst, wie auch sonst in Kairo, kein Baum und kein Strauch, man sieht kein Grün, sondern nimmt nur die Farben und die Gerüche des Staubes, des Sandes und des Mülls wahr, der sich an allen Ecken türmt, weil die Abfuhr nicht entsprechend funktioniert.
Wenn man nun durch diese Gäßchen in Giza in Richtung Pyramiden geht, dann steht man irgendwann vor einem mit Videokameras und Stacheldraht gesicherten Maschendrahtzaun. Wenn man durch diesen Zaun hindurchblickt, sieht man den Golfplatz des schon erwähnten Mena House Oberoi Hotels: Dieser sehr nette Golfplatz wird tag und nacht bewässert (mit großen Sprengern), das ganze Grün ist, wie der Name schon sagt, in saftiges Grün getaucht und von vielen schattenspendenden Palmen umgeben. Mit einem Wort: Es sieht aus wie eine andere Welt. Nein: Es sieht aus wie im Paradies auf Erden.
Was für Schlüsse ziehen nun die Ägypter aus diesem Anblick: Sie ziehen daraus den Schluß, daß es so in ihrem ganzen Land aussehen würde, wenn es nicht Politiker und andere Mächte gibt, die das verhindern. Als Verantwortliche werden dafür zunächst die einheimischen Politiker ausgemacht, die als Marionetten der amerikanischen (und somit dann indirekt auch der jüdisch-israelischen) Politik angesehen werden. Von diesen Gedanken aus kommt man dann rasch zu den Ideologien, die in Ägypten und anderswo verbreitet sind; man kommt auch rasch zu allen möglichen Spielarten des Islamismus.
Und ich empfehle in diesem Zusammenhang auch mal einen Flug nach Kairo, denn kurz bevor das Flugzeug dort ankommt, überfliegt man im Norden der Stadt (bei Heliopolis) das Villengebiet der Oberen Zehntausend (führende Politiker, Schauspieler etc.). Da kann man nun von oben hübsch die ganzen riesigen Villen im zum Blühen gebrachten Wüstensand sehen, deren jede einen netten hellblau schimmernden Swimmingpool aufweist, manche davon oval, manche rechteckig, manche in ganz verspielten Formen. Man muß das von oben sehen, denn vom Boden aus kann man dieses Viertel nicht betreten: Es ist abgesperrt, und es gibt keinerlei Zutritt für Außenstehende. Die Ägypter wissen aber, wie es in diesen Vierteln aussieht, und die meisten Ägypter, die in Verhältnissen wie in Giza leben, glauben auch zu wissen, warum sie so leben, wie sie leben, und warum es einige andere gibt, die anders leben.
Noch ein Beispiel: Viele islamistische Gruppierungen in Ägypten sind in den letzten Jahrzehnten nicht deshalb einflußreich geworden, weil sie eine antisemitische Ideologie haben - die sie ja haben -, sondern weil sie Armenspeisung, Behindertenbetreuung, Kindergärten und Krankenhäuser eingerichtet haben, wozu die Regierung nicht in der Lage oder nicht willens war. Das ist kein sozialromantischer Blödsinn, sondern die Wahrheit, die sich z.B. in vielen Stadtvierteln Kairos nachweisen läßt, etwa in dem armen Volksviertel Shubrâ. Die Ideologie kommt dann ins Spiel, wenn man den Leuten erklären muß, warum sich der Staat nicht für sie interessiert. Wie gesagt, auf der Suche nach den Schuldigen findet man zunächst die lokalen Politiker, und hinter ihnen stehend die westlichen Mächte, in erster Linie die USA und Israel, die es eben nicht zulassen wollen, so denkt man sich, daß es allen Ägyptern besser geht. Das mündet dann im Lauf von Jahrzehnten – das Ganze ist ja nichts, was sich von heute auf morgen entwickelt hat – in eine allgemeine, anti-westliche Ideologie mit starken antisemitischen Untertönen.
Angesichts der tatsächlichen Lebenssituation in Ägypten, angesichts der Tatsache, daß es der großen Mehrzahl der Menschen so geht, wie es geht, während die Regierenden und ihre korrupte Beamtenschaft (im höheren Dienst, versteht sich) in Saus und Braus leben, ihre Ferien in Florida verbringen und ansonsten ihr eigenes Land nach Strich und Faden ausbeuten, um sich ein schönes Leben zu machen – angesichts all dessen, was sich dem Betrachter ja tatsächlich so darstellt und tatsächlich auch so IST, fand ich bis heute noch kein überzeugendes Argument, warum eigentlich diejenigen Ägypter aus ihrer Sicht nicht recht und jeden Anlaß haben sollten, so zu denken, wie sie denken. Daß neben den ganzen sozialen Problemen in Ägypten tagtäglich auch die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, erwähne ich nur am Rande.
Um etwas zusammenzufassen, wozu man noch viel sagen könnte:
Die westliche Politik und die westliche Weltsicht hat in Ägypten, um noch bei diesem Beispiel zu bleiben, keinerlei Achtung mehr und lockt, um es so zu sagen, „keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor“. Denn: Die meisten Leute machen diese Politik und unsere Weltsicht (samt Liberalismus, Demokratie, Menschenrechten etc.etc.) dafür verantwortlich, daß es in ihrem Land nicht funktioniert. Man denkt sich nämlich folgendes:
Prämisse 1: Die westlichen Staaten propagieren Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, aber davon ist in unserem Land nichts zu sehen.
Prämisse 2: Im Gegenteil, diejenigen, die unser Land zugrunderichten, ausbeuten und dafür sorgen, daß es nicht anders wird, sind genau diejenigen – nämlich die Regierenden -, die mit dem Westen und dessen Weltsicht unter einer Decke stecken.
Schlußfolgerung 1: Die westliche Ideologie ist eine heuchlerische Ideologie, die nur dem Westen dient und Marionetten-Regierungen in der islamischen Welt unterstützt, aber in Wahrheit dafür sorgt, daß es anderswo den Leuten weiterhin dreckig geht.
Schlußfolgerung 2: Wenn die westliche Ideologie uns nichts bringt, müssen wir uns anderswo umsehen: Das ist der Beginn des Islamismus
Schlußfolgerung 3: Wenn wir die westlichen Staaten und Israel als die Drahtzieher hinter dieser perfiden westlichen Ideologie, die nicht das hält, was sie verspricht, sondern das Gegenteil bewirkt, ausgemacht haben, dann müssen wir sie bekämpfen, damit wir diesem Dilemma entrinnen können: Das ist der Beginn der anti-westlichen, anti-säkularen und anti-semitischen Elemente im Islamismus.
Was bedeutet dies für uns:
Es bedeutet, daß der Westen ÜBERALL UND MIT GLEICHEN MITTELN dafür sorgen müßte, daß seine freiheitliche, demokratische und säkularistische Ideologie den Menschen in allen Ländern tatsächlich als etwas Positives nahegebracht wird. Das geschieht bisher nicht einmal in Ansätzen.
Die ganze westliche Ideologie ist bisher nur eine schwammige Firnis, die über die tatsächlichen Machenschaften und die ganze aggressive, imperialistische Politik gepinselt ist, in Wirklichkeit jedoch keine praktische Rolle spielt. So müßte man z.B. in Ägypten dafür sorgen, daß nicht die korrupten Regierenden das Vorbild für die westliche Ideologie abgeben.
Solange in diesem Sinn nichts passiert, können wir mit allen anti-westlichen Gruppen diskutieren, bis wir grau werden, und werden sie nicht davon überzeugen können, daß sie eine Ideologie annehmen sollten, von der sie doch tatsächlich keinen Gewinn haben werden. Erst wenn die Menschen in der Welt sehen, daß ihnen unsere westliche Weltsicht einen Vorteil bringt, werden sie sich überzeugen lassen.
Als ich einst in Syrien studierte, lernte ich einen Hausmeister an der dortigen Uni kennen, der mit Vornamen „Hitler“ hieß. Ich wollte es nicht glauben, aber auf meine Nachfrage hin zeigte er mir seinen Ausweis und da war als Vorname tatsächlich „Hitler“ eingetragen. Ein Kebab-Laden in der Altstadt, wo ich öfters hinging, wurde von einem alten Herrn betrieben, der uns – als Ausländer und als Deutsche – natürlich bald erkannte und nach einigen Wochen immer schon von weitem begrüßte. Das sah dann so aus:
Er stand hinter seinem Kebab-grill, der vor ihm wie ein Grilltischchen aufgebaut war, auf dem die Fleischspießchen brutzelten, und als er uns nahen sah, streckte er die Hand mit der Fleischzange nach oben, ließ sie von oben über seine grillenden Spießchen fahren und rief dabei: „bubububu-bummmm! bubububu-bummm!, womit er offensichtlich einen Stuka-Angriff oder so etwas ähnliches darstellen wollte. Das war sehr freundlich gemeint. Und noch etwas: Arabische Ausgaben von „Mein Kampf“ (arab. Kifâhî) findet man in fast allen Buchhandlungen zwischen Damaskus und Kairo.
Soviel dazu. ABER:
Das ist zwar eine schlimme Wahrheit, aber eben nicht die ganze Wahrheit. Um noch einmal auf das Beispiel Ägypten zurückzukommen:
Wenn man sich in Kairo in den Bus setzt und nach Giza hinaus zu den Pyramiden fährt, dann kommt man irgendwann entweder zum Mena House Oberoi, einem 5-Sterne Hotel neben den Pyramiden, oder in den Ort Giza. Ich empfehle, zum Ort Giza zu fahren. Der Ort Giza besteht im wesentlichen – abgesehen von den Souvernirläden direkt am Eingang zum Pyramiden-Gebiet – aus ganz einfachen Lehm-Häuschen, worunter sich aber auch zusammengezimmerte Blechhütten finden (aus dem Blech von Ölkanistern, meistens).
Die Straßen sind mit Ausnahme der Hauptstraßen nicht geteert, und die dortigen Kinder spielen buchstäblich im Dreck. Die Kanalisation, die nur bedingt verfügbar ist, funktioniert nicht, und oft muß man über kleine aufgestellte Konservendosen über den überschwemmten Boden balancieren. Die Bedingungen der Bewohner sind hanebüchend; dort wächst, wie auch sonst in Kairo, kein Baum und kein Strauch, man sieht kein Grün, sondern nimmt nur die Farben und die Gerüche des Staubes, des Sandes und des Mülls wahr, der sich an allen Ecken türmt, weil die Abfuhr nicht entsprechend funktioniert.
Wenn man nun durch diese Gäßchen in Giza in Richtung Pyramiden geht, dann steht man irgendwann vor einem mit Videokameras und Stacheldraht gesicherten Maschendrahtzaun. Wenn man durch diesen Zaun hindurchblickt, sieht man den Golfplatz des schon erwähnten Mena House Oberoi Hotels: Dieser sehr nette Golfplatz wird tag und nacht bewässert (mit großen Sprengern), das ganze Grün ist, wie der Name schon sagt, in saftiges Grün getaucht und von vielen schattenspendenden Palmen umgeben. Mit einem Wort: Es sieht aus wie eine andere Welt. Nein: Es sieht aus wie im Paradies auf Erden.
Was für Schlüsse ziehen nun die Ägypter aus diesem Anblick: Sie ziehen daraus den Schluß, daß es so in ihrem ganzen Land aussehen würde, wenn es nicht Politiker und andere Mächte gibt, die das verhindern. Als Verantwortliche werden dafür zunächst die einheimischen Politiker ausgemacht, die als Marionetten der amerikanischen (und somit dann indirekt auch der jüdisch-israelischen) Politik angesehen werden. Von diesen Gedanken aus kommt man dann rasch zu den Ideologien, die in Ägypten und anderswo verbreitet sind; man kommt auch rasch zu allen möglichen Spielarten des Islamismus.
Und ich empfehle in diesem Zusammenhang auch mal einen Flug nach Kairo, denn kurz bevor das Flugzeug dort ankommt, überfliegt man im Norden der Stadt (bei Heliopolis) das Villengebiet der Oberen Zehntausend (führende Politiker, Schauspieler etc.). Da kann man nun von oben hübsch die ganzen riesigen Villen im zum Blühen gebrachten Wüstensand sehen, deren jede einen netten hellblau schimmernden Swimmingpool aufweist, manche davon oval, manche rechteckig, manche in ganz verspielten Formen. Man muß das von oben sehen, denn vom Boden aus kann man dieses Viertel nicht betreten: Es ist abgesperrt, und es gibt keinerlei Zutritt für Außenstehende. Die Ägypter wissen aber, wie es in diesen Vierteln aussieht, und die meisten Ägypter, die in Verhältnissen wie in Giza leben, glauben auch zu wissen, warum sie so leben, wie sie leben, und warum es einige andere gibt, die anders leben.
Noch ein Beispiel: Viele islamistische Gruppierungen in Ägypten sind in den letzten Jahrzehnten nicht deshalb einflußreich geworden, weil sie eine antisemitische Ideologie haben - die sie ja haben -, sondern weil sie Armenspeisung, Behindertenbetreuung, Kindergärten und Krankenhäuser eingerichtet haben, wozu die Regierung nicht in der Lage oder nicht willens war. Das ist kein sozialromantischer Blödsinn, sondern die Wahrheit, die sich z.B. in vielen Stadtvierteln Kairos nachweisen läßt, etwa in dem armen Volksviertel Shubrâ. Die Ideologie kommt dann ins Spiel, wenn man den Leuten erklären muß, warum sich der Staat nicht für sie interessiert. Wie gesagt, auf der Suche nach den Schuldigen findet man zunächst die lokalen Politiker, und hinter ihnen stehend die westlichen Mächte, in erster Linie die USA und Israel, die es eben nicht zulassen wollen, so denkt man sich, daß es allen Ägyptern besser geht. Das mündet dann im Lauf von Jahrzehnten – das Ganze ist ja nichts, was sich von heute auf morgen entwickelt hat – in eine allgemeine, anti-westliche Ideologie mit starken antisemitischen Untertönen.
Angesichts der tatsächlichen Lebenssituation in Ägypten, angesichts der Tatsache, daß es der großen Mehrzahl der Menschen so geht, wie es geht, während die Regierenden und ihre korrupte Beamtenschaft (im höheren Dienst, versteht sich) in Saus und Braus leben, ihre Ferien in Florida verbringen und ansonsten ihr eigenes Land nach Strich und Faden ausbeuten, um sich ein schönes Leben zu machen – angesichts all dessen, was sich dem Betrachter ja tatsächlich so darstellt und tatsächlich auch so IST, fand ich bis heute noch kein überzeugendes Argument, warum eigentlich diejenigen Ägypter aus ihrer Sicht nicht recht und jeden Anlaß haben sollten, so zu denken, wie sie denken. Daß neben den ganzen sozialen Problemen in Ägypten tagtäglich auch die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, erwähne ich nur am Rande.
Um etwas zusammenzufassen, wozu man noch viel sagen könnte:
Die westliche Politik und die westliche Weltsicht hat in Ägypten, um noch bei diesem Beispiel zu bleiben, keinerlei Achtung mehr und lockt, um es so zu sagen, „keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor“. Denn: Die meisten Leute machen diese Politik und unsere Weltsicht (samt Liberalismus, Demokratie, Menschenrechten etc.etc.) dafür verantwortlich, daß es in ihrem Land nicht funktioniert. Man denkt sich nämlich folgendes:
Prämisse 1: Die westlichen Staaten propagieren Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, aber davon ist in unserem Land nichts zu sehen.
Prämisse 2: Im Gegenteil, diejenigen, die unser Land zugrunderichten, ausbeuten und dafür sorgen, daß es nicht anders wird, sind genau diejenigen – nämlich die Regierenden -, die mit dem Westen und dessen Weltsicht unter einer Decke stecken.
Schlußfolgerung 1: Die westliche Ideologie ist eine heuchlerische Ideologie, die nur dem Westen dient und Marionetten-Regierungen in der islamischen Welt unterstützt, aber in Wahrheit dafür sorgt, daß es anderswo den Leuten weiterhin dreckig geht.
Schlußfolgerung 2: Wenn die westliche Ideologie uns nichts bringt, müssen wir uns anderswo umsehen: Das ist der Beginn des Islamismus
Schlußfolgerung 3: Wenn wir die westlichen Staaten und Israel als die Drahtzieher hinter dieser perfiden westlichen Ideologie, die nicht das hält, was sie verspricht, sondern das Gegenteil bewirkt, ausgemacht haben, dann müssen wir sie bekämpfen, damit wir diesem Dilemma entrinnen können: Das ist der Beginn der anti-westlichen, anti-säkularen und anti-semitischen Elemente im Islamismus.
Was bedeutet dies für uns:
Es bedeutet, daß der Westen ÜBERALL UND MIT GLEICHEN MITTELN dafür sorgen müßte, daß seine freiheitliche, demokratische und säkularistische Ideologie den Menschen in allen Ländern tatsächlich als etwas Positives nahegebracht wird. Das geschieht bisher nicht einmal in Ansätzen.
Die ganze westliche Ideologie ist bisher nur eine schwammige Firnis, die über die tatsächlichen Machenschaften und die ganze aggressive, imperialistische Politik gepinselt ist, in Wirklichkeit jedoch keine praktische Rolle spielt. So müßte man z.B. in Ägypten dafür sorgen, daß nicht die korrupten Regierenden das Vorbild für die westliche Ideologie abgeben.
Solange in diesem Sinn nichts passiert, können wir mit allen anti-westlichen Gruppen diskutieren, bis wir grau werden, und werden sie nicht davon überzeugen können, daß sie eine Ideologie annehmen sollten, von der sie doch tatsächlich keinen Gewinn haben werden. Erst wenn die Menschen in der Welt sehen, daß ihnen unsere westliche Weltsicht einen Vorteil bringt, werden sie sich überzeugen lassen.
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che2001,
Dienstag, 25. Juli 2006, 17:41
Gut, meine westliche Weltsicht ist nicht die des herrschenden westlichen Weltsystems, würde mich eher als basisdemokratischen undogmatischen Marxisten betrachten, aber davon ab: Ich kenne diese Verhältnisse. Ich habe in einer Villa in Heliopolis gewohnt, in deren Garten in einer selbstgegrabenen Erdhöhle eine Armenfamilie wohnte, habe erlebt, wie ein Wachsoldat für eine Packung Filter Tipped Cleopatra seinen Posten verließ, um für mich den Fremdenführer zu machen, wie der Schwager eines ägyptischen Freundes, der Staatsanwalt war, uns nur so zum Spaß verhaften ließ (durch Militär, nicht durch Polizei), ich habe Imbaba gesehen, und ich habe ein Slum in Assuan von innen gesehen, wo sudanesische Einwanderer das Licht anmachen, indem sie unisolierte Kupferdrähte mit der Wäscheklammer zusammenzwicken(Strom wird illegal abgezweigt). Oder die Tatsache, dass einen bei jedem Aussteigen aus dem Zug bei den kleinen Bahnhöfen Kinder umschwäremen, die "Pencil, Pencil" schreien, weil ihre eltern kein Geld haben, um ihnen Schreubgerät für die schule haben. Ich kenne das weit verbreitete Minderwertigkeitsgefühl gegenüber Westlern (where do you come from? From Germany, and you? I´m only a poor Egyptian). Ich kenne auch die Szene aus Giza, die Du beschrieben hast - was übrigens kein Ort, sondern eine Stadt mit 2,5 Mio Einwohnern ist.
Es gab früher in der ägyptischen Opposition eine recht starke linke Kraft, die Tagammu. Die haben heute im Parlament einen Sitz, sind in der Bedeutungslosigkeit versunken. Es gibt eine gar nicht so schwache liberale Partei, die Neue Wafd. Wenn diese beiden Kräfte sich entschließen würde, miteinander und mit de Nasseristen zusammenzuarbeiten, gäbe es eine Alternative jenseits von Mubarak und Muslimbrüdern. Wenn....
Es gab früher in der ägyptischen Opposition eine recht starke linke Kraft, die Tagammu. Die haben heute im Parlament einen Sitz, sind in der Bedeutungslosigkeit versunken. Es gibt eine gar nicht so schwache liberale Partei, die Neue Wafd. Wenn diese beiden Kräfte sich entschließen würde, miteinander und mit de Nasseristen zusammenzuarbeiten, gäbe es eine Alternative jenseits von Mubarak und Muslimbrüdern. Wenn....
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che2001,
Dienstag, 25. Juli 2006, 17:43
P.S.: Ich habe in Ägypten Leute aus dem Sudan und dem Kongo getroffen, für die war das das Paradies.
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truthcomeslast,
Dienstag, 25. Juli 2006, 21:04
Ja, du hast recht, Giza ist eine riesige Vorstadt von Kairo und inzwischen von der Metropolis bald ganz umgeben, die sich immer weite in die Wüste hineinfrißt. Allerdings wirken die Ecken um die Pyramiden und südlich davon, was ja der eigentlich alte Teil von Giza ist, noch ganz ländlich.
Zu den linken Kräften in Ägypten und den Nasseristen wollte ich noch sagen: Durch das große Anwachsen des Islamismus in den letzten, sagen wir, 15 Jahren, sind leider auch alle säkularistischen (kommunistischen, nationalistischen etc.) Gruppen diskreditiert, weil sich natürlich deren Ideologie, worauf die Islamisten ständig hinweisen, auch aus westlichen Quellen speist, mögen sie auch dem real existierenden Westen sehr kritisch oder gar feindlich gegenüberstehen. Oder kurz gesagt: Weil bei den anti-imperialistischen, anti-kolonialistischen und weiteren derartigen Gruppen letztlich auch ein starker ideologischer Bezug zu westlichen Elementen vorliegt,
mag er auch kritische Ergebnisse zeitigen, haben diese Gruppen sehr an Glaubwürdigkeit verloren. Es sieht auch nicht danach aus, als würden sie diese so schnell wiedererlangen können.
Zu den linken Kräften in Ägypten und den Nasseristen wollte ich noch sagen: Durch das große Anwachsen des Islamismus in den letzten, sagen wir, 15 Jahren, sind leider auch alle säkularistischen (kommunistischen, nationalistischen etc.) Gruppen diskreditiert, weil sich natürlich deren Ideologie, worauf die Islamisten ständig hinweisen, auch aus westlichen Quellen speist, mögen sie auch dem real existierenden Westen sehr kritisch oder gar feindlich gegenüberstehen. Oder kurz gesagt: Weil bei den anti-imperialistischen, anti-kolonialistischen und weiteren derartigen Gruppen letztlich auch ein starker ideologischer Bezug zu westlichen Elementen vorliegt,
mag er auch kritische Ergebnisse zeitigen, haben diese Gruppen sehr an Glaubwürdigkeit verloren. Es sieht auch nicht danach aus, als würden sie diese so schnell wiedererlangen können.
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artur,
Dienstag, 25. Juli 2006, 21:26
che, danke für diese informationen. aber wohin sind PFLP et al verschwunden? was ist seit george habashs tod passiert?
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rayson,
Dienstag, 25. Juli 2006, 22:26
Ja, interessante Details. Im weiteren Verlauf der Diskussion stellt sich mir aber die Frage: Warum führt eine offensichtliche Ungleichheit zwischen inländischer Armut und internationalem Reichtum (und das Zusammentreffen beider in Form von Tourismus) nur in den arabischen Staaten zu den beschriebenen Reaktionen? Für eine Erklärung fehlt mir da noch zu viel.
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artur,
Dienstag, 25. Juli 2006, 22:41
rayson, du bist ein geschickter rhetoriker. keine frage. aber: was heißt hier "nur" in den arabischen staaten? lass uns doch mal über panama unter noriega, chile unter pinochet, den kongo unter mobutu und andere sprechen. da wurde das volk einfach erschossen.
es gab z.b. in argentinien einen regelrechten volksaufstand gegen die regierung, die dem volk unter weltbank-mandat alles nahm.
und nun?
(ganz ohne schischi)
nachtrag 21:56 offensichtlich wars das schon mit raysons - wie soll man sagen - rhetorik? diskussionskultur? oder was?
es gab z.b. in argentinien einen regelrechten volksaufstand gegen die regierung, die dem volk unter weltbank-mandat alles nahm.
und nun?
(ganz ohne schischi)
nachtrag 21:56 offensichtlich wars das schon mit raysons - wie soll man sagen - rhetorik? diskussionskultur? oder was?
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truthcomeslast,
Mittwoch, 26. Juli 2006, 00:48
@rayson
Du hast geschrieben: "Warum führt eine offensichtliche Ungleichheit zwischen inländischer Armut und internationalem Reichtum (und das Zusammentreffen beider in Form von Tourismus) nur in den arabischen Staaten zu den beschriebenen Reaktionen?"
Offensichtlich bezog sich dies wohl auf einige Erfahrungen in Ägypten, die Che und ich oben geschildert haben. Es geht aber gar nicht um das Zusammentreffen in Form von Tourismus. Mein Beispiel vom Mena House Oberoi und seinem gut bewässerten Golfplatz sollte nicht zeigen, wie toll die Touristen dort leben und wie schlecht es den Einheimischen geht, das wäre banal. Sondern es handelt sich um ein Bild, das den Einheimischen jeden Tag klar macht, was aus ihrem Land und überhaupt aus einem Land zu machen wäre, wenn man nur das nötige Geld und den nötigen Willen (bei den Regierenden) dazu hätte. Wenn man noch dazu nimmt, daß die Regierenden für sich eine solche Welt geschaffen haben, in der sie fröhlich (wenn auch abgeschirmt und bewacht) vor sich hin leben können - und hier gibt es durchaus auch großen INLÄNDISCHEN Reichtum -, ihren eigenen Landesbürgern dies aber versagen, und wenn man dann noch dazu nimmt, daß für die meisten Ägypter ihre Regierenden "den Westen" repräsentieren, dann wird dieses Bild eben ganz ungeheuer ideologisch aufgeladen ... und nicht zugunsten all derer, die westliche Werte predigen. Denn der Durchschnittsägypter sagt dann, wenn ihm davon gepredigt wird: "Ja schön, hört sich auch gut an, aber was haben wir davon?"
Du hast geschrieben: "Warum führt eine offensichtliche Ungleichheit zwischen inländischer Armut und internationalem Reichtum (und das Zusammentreffen beider in Form von Tourismus) nur in den arabischen Staaten zu den beschriebenen Reaktionen?"
Offensichtlich bezog sich dies wohl auf einige Erfahrungen in Ägypten, die Che und ich oben geschildert haben. Es geht aber gar nicht um das Zusammentreffen in Form von Tourismus. Mein Beispiel vom Mena House Oberoi und seinem gut bewässerten Golfplatz sollte nicht zeigen, wie toll die Touristen dort leben und wie schlecht es den Einheimischen geht, das wäre banal. Sondern es handelt sich um ein Bild, das den Einheimischen jeden Tag klar macht, was aus ihrem Land und überhaupt aus einem Land zu machen wäre, wenn man nur das nötige Geld und den nötigen Willen (bei den Regierenden) dazu hätte. Wenn man noch dazu nimmt, daß die Regierenden für sich eine solche Welt geschaffen haben, in der sie fröhlich (wenn auch abgeschirmt und bewacht) vor sich hin leben können - und hier gibt es durchaus auch großen INLÄNDISCHEN Reichtum -, ihren eigenen Landesbürgern dies aber versagen, und wenn man dann noch dazu nimmt, daß für die meisten Ägypter ihre Regierenden "den Westen" repräsentieren, dann wird dieses Bild eben ganz ungeheuer ideologisch aufgeladen ... und nicht zugunsten all derer, die westliche Werte predigen. Denn der Durchschnittsägypter sagt dann, wenn ihm davon gepredigt wird: "Ja schön, hört sich auch gut an, aber was haben wir davon?"
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che2001,
Mittwoch, 26. Juli 2006, 01:21
"They are doing nothing for the people", das ist es, was ich ständig in Ägypten zu hören bekam, und "They behave like little gods, but the days of Ramses are 3000 years ago."
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auch-einer,
Mittwoch, 26. Juli 2006, 15:35
worin unterscheiden sich eigentllich die positionen, die truthcomeslast für ägypten darstellt, von dem, was die neuen alten nazis verbreiten? schön, die bei uns haben weniger mit allah am hut, aber das wars dann auch schon.
mal nach deutsche stimme googeln, um die denke des hern apfel, mdl, kennenzulernen.
wenn der/die erst noch gelder abgreift/abgreifen, um sich die anhängerschaft mit bier und posten zu kaufen (mal ganz wüst gedacht: neuauflage der sturmabteilungen - auch unter ihrer abkürzung sa bekannt - qua gemein-/eigennützigem beschäftigungsverhältnis nach sgb zwo fürs fussvolk wie für die parteikasse) dann gute nacht.
mal nach deutsche stimme googeln, um die denke des hern apfel, mdl, kennenzulernen.
wenn der/die erst noch gelder abgreift/abgreifen, um sich die anhängerschaft mit bier und posten zu kaufen (mal ganz wüst gedacht: neuauflage der sturmabteilungen - auch unter ihrer abkürzung sa bekannt - qua gemein-/eigennützigem beschäftigungsverhältnis nach sgb zwo fürs fussvolk wie für die parteikasse) dann gute nacht.
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che2001,
Mittwoch, 26. Juli 2006, 16:44
Diese Positionen unterscheiden sich in einer Reihe von Punkten von denen der Nazis. Entscheidend ist z.B., dass in der islamischen Welt Rassentheorien völlig unbekannt sind. Der durchschnittliche Ägypter hat auch nicht unbedingt etwas gegen Juden an sich (als religiöse Gruppe), sondern gegen den Staat Israel und gegen die Außenpolitik und Militärmacht der USA, ev. auch gegen kulturelle Verwestlichung.
Teilweise kulminiert das in paranoide Weltverschwörungstheorien mit Israel und den USA als Allianz des Bösen, aber im Gegensatz zur NS-Ideologie ohne "Rassen" und auch nicht mit der Einbeziehung der Kommunisten oder sonstigen Linken ins Verschwörungssystem. Und sehr, sehr ambivalent: Ein überzeugter Israelhasser sagte, wenn Shimon Peres regiere, dann würde alles gut. Die Feindschaft auf Israel scheint also nicht immer so grundsätzlich und kategorisch gemeint zu sein, wie sie sich anhört.
Die Mobilisierbarkeit des aus sozialem Elend stammenden Hasses kann auch in ganz andere Richtungen gehen. Einer meiner früheren ägyptischen Freunde war selber dabei, als im Herbst 1990 die Massen gegen Kairoer Luxushotels anstürmten, in denen vor Saddam geflohene reiche Kuwaitis untergebracht waren (auf ägyptische Staatskosten, statt der zahlenden westlichen Touristen) und berichtete, dass Kuwaitis angepöbelt, mit Erdbrocken beworfen und angerempelt wurden. Die öligen Emire sind in Ägypten nämlich fast genauso beliebt wie die Israelis ("Wir sind die älteste Kulturnation der Erde, und das sind die Wilden aus der Wüste, die es zu Geld gebracht haben"). Ich kann mich erinnern, dass der Gouverneur des Südsinai auf unserem Campingplatz zu Besuch war, und der Fahrer des Tanklastwagens, der die sanitären Einrichtungen mit Wasser versorgt, winkte mich zu seinem LKW, damit ich mich waschen und mir die Zähne putzen konnte. Er hatte nämlich den Hahn geöffnet und ließ das Wasser in den Wüstensand rinnen mit der Erklärung "The government people" wollten die Duschen und Klos für sich, kein Touri sollte sie benutzen dürfen (aus Sicherheitsgründen), aber der Campingplatz sei für die zahlenden Touris da und nicht für nichtzahlende Bonzen, die das Volk ausbeuten. Deshalb lasse er das Wasser in den Sand laufen, die sollen nicht duschen können.
Vieles, was ich so von oppositionellen (oder sollte man lieber sagen: renitent denkenden) Ägyptern gehört habe, war sehr inhomogen, wie eine Mischung aus sozialistischen, faschistischen und linksislamistischen (Gaddafi-Richtung) Gedankensplittern, bei denen sprunghaft von einem ins andere Modell gewechselt wurde. Besagter ägyptische Freund war für Hitler, weil er wie gesagt glaubte, dies sei jemand gewesen, der Israel militärisch geschlagen habe. Die Shoah hielt er für eine Erfindung israelischer Propaganda.
Erst aus "deutschem Mund" glaubte er es.
Als ich ihn darüber aufklärte, was bei uns wirklich passiert war und ihm beim Gegenbesuch in Deutschland eine Gedenkstätte zeigte, da fing er an zu weinen. Der Spruch "Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen" wurde von ihm dann ständig in der Rushdie-Diskussion angeführt, die er mit seinen Kumpels so führte. Da muss auch die geringe Bildung der Leute in Ägypten beachtet werden. Er hatte nicht nur Geschichtsunterricht nur von Cheops bis Saladin gehabt, er wusste auch nicht, dass England eine Insel ist und London einen Hafen hat - als studierter Ökonom.
Und dann gibt es die organisierte Opposition in Ägypten, die sich in 4 Parteinen teilt: Die Moslembrüder mit einer zusammenhängend islamofaschistischen Ideologie, zugleich Antikorruptions-Saubermänner und neuerdings sogar für die Demokratie als Staatsform zu haben (der Islamofaschismus funktioniert also vor allem als Rechtfertigungs- und Abgrenzungsideologie und muss nicht zwingend auf eine Dikatur als Staatsform hinauslaufen, zumindest nicht in der Theorie).
Dann die Neue Wafd, hervorgegangen aus der ältesten Partei Ägyptens, der Wafd. Die Neue Wafd ist liberal, auch in wirtschaftlicher Hinsicht, zugleich aber panarabisch und für eine protektionistische Abschottung vom Weltmarkt, dessen terms of trade aks Hauptgrund für die ägyptische Armut gesehen werden. Die Nasseristen sind für die Rückkehr zum arabischen Sozialismus (Außenhandel, Banken, Industrien in Staatshand, privates Bauerntum und Mittelstand) und eine straff antiwestliche Außenpolitik. Tagammu ist eine Arbeiterpartei in einem sehr engen Sinne, quasi parlamentarische Vertretung der Gewerkschaften und reicht vom politischen Spektrum von Sozialdemokraten bis Gaddafi-Sozialisten. Neu ist die linksliberale Ghad-Partei, die für westliche Demokratie, auch für Öffnung zum Westen ist, aber Westen heißt für die EU, die USA sind auch aus deren Sicht eine feindliche Macht. Ein Kernbegriff, den man kennen muss, wenn man die arabische Welt überhaupt verstehen will, ist der Gedanke der Asabya, der allen diesen Parteien gemein und von Mauretanien bis Syrien ein Gemeinplatz ist, vielleicht das politische Basisbewusstsein der arabischen Massen. Asabya bedeutet Zusammenhalt und meint ebenso ein Gemeinschaftsgefühl der Menschen im Umgang miteinander (die ägyptische Gesellschaft ist bei allen krassen sozialen Unterschieden von einem starken Gemeinschaftsgefühl geprägt, die einfachen Leute sind sehr viel sozialer als bei uns, wenn etwa ein beinloser Krüppel an einer Bushaltestelle steht, ist es selbstverständlich, dass Insassen aussteigen, ihn reintragen und der Busfahrer von der Strecke abweichnd den Mann erstmal dahin fährt, wo er hinwill) wie eine grundsätzliche Solidarität mit anderen Arabern/arabischen Staaten, wenn diese in Konflikte z.B. mit dem Westen geraten, als auch mit Muslimen an sich. Dass es unabhängig von dem Beschuss Israels durch die Hisbollah in dem Augenblick mit dieser Solidarisierungen gibt, wenn Israel Angriffe fliegt, selbst wenn man vorher die Hisbollah ablehnte, ist vor diesem Hintergrund eine Selbstverständlichkeit. Asabya ist einerseits eine politische Philosophie, andererseits in der islamischen Welt eine Primärtugend, die niemand in Frage stellen würde. Ich würde so weit gehen, die Haltung in Frage zu stellen hätte im Moralsystem der Leute dort etwa den Stellenwert, wie wenn jemand bei uns vorschlagen würde, doch mal offen über Sex mit Kindern zu diskutieren.
Teilweise kulminiert das in paranoide Weltverschwörungstheorien mit Israel und den USA als Allianz des Bösen, aber im Gegensatz zur NS-Ideologie ohne "Rassen" und auch nicht mit der Einbeziehung der Kommunisten oder sonstigen Linken ins Verschwörungssystem. Und sehr, sehr ambivalent: Ein überzeugter Israelhasser sagte, wenn Shimon Peres regiere, dann würde alles gut. Die Feindschaft auf Israel scheint also nicht immer so grundsätzlich und kategorisch gemeint zu sein, wie sie sich anhört.
Die Mobilisierbarkeit des aus sozialem Elend stammenden Hasses kann auch in ganz andere Richtungen gehen. Einer meiner früheren ägyptischen Freunde war selber dabei, als im Herbst 1990 die Massen gegen Kairoer Luxushotels anstürmten, in denen vor Saddam geflohene reiche Kuwaitis untergebracht waren (auf ägyptische Staatskosten, statt der zahlenden westlichen Touristen) und berichtete, dass Kuwaitis angepöbelt, mit Erdbrocken beworfen und angerempelt wurden. Die öligen Emire sind in Ägypten nämlich fast genauso beliebt wie die Israelis ("Wir sind die älteste Kulturnation der Erde, und das sind die Wilden aus der Wüste, die es zu Geld gebracht haben"). Ich kann mich erinnern, dass der Gouverneur des Südsinai auf unserem Campingplatz zu Besuch war, und der Fahrer des Tanklastwagens, der die sanitären Einrichtungen mit Wasser versorgt, winkte mich zu seinem LKW, damit ich mich waschen und mir die Zähne putzen konnte. Er hatte nämlich den Hahn geöffnet und ließ das Wasser in den Wüstensand rinnen mit der Erklärung "The government people" wollten die Duschen und Klos für sich, kein Touri sollte sie benutzen dürfen (aus Sicherheitsgründen), aber der Campingplatz sei für die zahlenden Touris da und nicht für nichtzahlende Bonzen, die das Volk ausbeuten. Deshalb lasse er das Wasser in den Sand laufen, die sollen nicht duschen können.
Vieles, was ich so von oppositionellen (oder sollte man lieber sagen: renitent denkenden) Ägyptern gehört habe, war sehr inhomogen, wie eine Mischung aus sozialistischen, faschistischen und linksislamistischen (Gaddafi-Richtung) Gedankensplittern, bei denen sprunghaft von einem ins andere Modell gewechselt wurde. Besagter ägyptische Freund war für Hitler, weil er wie gesagt glaubte, dies sei jemand gewesen, der Israel militärisch geschlagen habe. Die Shoah hielt er für eine Erfindung israelischer Propaganda.
Erst aus "deutschem Mund" glaubte er es.
Als ich ihn darüber aufklärte, was bei uns wirklich passiert war und ihm beim Gegenbesuch in Deutschland eine Gedenkstätte zeigte, da fing er an zu weinen. Der Spruch "Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen" wurde von ihm dann ständig in der Rushdie-Diskussion angeführt, die er mit seinen Kumpels so führte. Da muss auch die geringe Bildung der Leute in Ägypten beachtet werden. Er hatte nicht nur Geschichtsunterricht nur von Cheops bis Saladin gehabt, er wusste auch nicht, dass England eine Insel ist und London einen Hafen hat - als studierter Ökonom.
Und dann gibt es die organisierte Opposition in Ägypten, die sich in 4 Parteinen teilt: Die Moslembrüder mit einer zusammenhängend islamofaschistischen Ideologie, zugleich Antikorruptions-Saubermänner und neuerdings sogar für die Demokratie als Staatsform zu haben (der Islamofaschismus funktioniert also vor allem als Rechtfertigungs- und Abgrenzungsideologie und muss nicht zwingend auf eine Dikatur als Staatsform hinauslaufen, zumindest nicht in der Theorie).
Dann die Neue Wafd, hervorgegangen aus der ältesten Partei Ägyptens, der Wafd. Die Neue Wafd ist liberal, auch in wirtschaftlicher Hinsicht, zugleich aber panarabisch und für eine protektionistische Abschottung vom Weltmarkt, dessen terms of trade aks Hauptgrund für die ägyptische Armut gesehen werden. Die Nasseristen sind für die Rückkehr zum arabischen Sozialismus (Außenhandel, Banken, Industrien in Staatshand, privates Bauerntum und Mittelstand) und eine straff antiwestliche Außenpolitik. Tagammu ist eine Arbeiterpartei in einem sehr engen Sinne, quasi parlamentarische Vertretung der Gewerkschaften und reicht vom politischen Spektrum von Sozialdemokraten bis Gaddafi-Sozialisten. Neu ist die linksliberale Ghad-Partei, die für westliche Demokratie, auch für Öffnung zum Westen ist, aber Westen heißt für die EU, die USA sind auch aus deren Sicht eine feindliche Macht. Ein Kernbegriff, den man kennen muss, wenn man die arabische Welt überhaupt verstehen will, ist der Gedanke der Asabya, der allen diesen Parteien gemein und von Mauretanien bis Syrien ein Gemeinplatz ist, vielleicht das politische Basisbewusstsein der arabischen Massen. Asabya bedeutet Zusammenhalt und meint ebenso ein Gemeinschaftsgefühl der Menschen im Umgang miteinander (die ägyptische Gesellschaft ist bei allen krassen sozialen Unterschieden von einem starken Gemeinschaftsgefühl geprägt, die einfachen Leute sind sehr viel sozialer als bei uns, wenn etwa ein beinloser Krüppel an einer Bushaltestelle steht, ist es selbstverständlich, dass Insassen aussteigen, ihn reintragen und der Busfahrer von der Strecke abweichnd den Mann erstmal dahin fährt, wo er hinwill) wie eine grundsätzliche Solidarität mit anderen Arabern/arabischen Staaten, wenn diese in Konflikte z.B. mit dem Westen geraten, als auch mit Muslimen an sich. Dass es unabhängig von dem Beschuss Israels durch die Hisbollah in dem Augenblick mit dieser Solidarisierungen gibt, wenn Israel Angriffe fliegt, selbst wenn man vorher die Hisbollah ablehnte, ist vor diesem Hintergrund eine Selbstverständlichkeit. Asabya ist einerseits eine politische Philosophie, andererseits in der islamischen Welt eine Primärtugend, die niemand in Frage stellen würde. Ich würde so weit gehen, die Haltung in Frage zu stellen hätte im Moralsystem der Leute dort etwa den Stellenwert, wie wenn jemand bei uns vorschlagen würde, doch mal offen über Sex mit Kindern zu diskutieren.
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rayson,
Mittwoch, 26. Juli 2006, 20:13
@truthcomeslast
Auch wenn du das, was du meinst, so präzisiert, ist Ägypten darin doch kein Einzelfall. Das hast du in Südamerika oder Südafrika (s. anderer Faden) genau so.
Auch wenn du das, was du meinst, so präzisiert, ist Ägypten darin doch kein Einzelfall. Das hast du in Südamerika oder Südafrika (s. anderer Faden) genau so.
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truthcomeslast,
Donnerstag, 27. Juli 2006, 02:56
Was nicht genauso ist
@raysons
Zum Vorhergenden, und zu dem, was du dich weiter oben gefragt hast, warum vieles so "nur in den arabischen Staaten" passiert. Hier der Versuch einer Antwort mit einigen Überlegungen, die ich hierzu für wichtig halte. Also:
Warum gibt es in verschiedenen außereuropäischen Ländern auf verschiedenen Kontinenten ähnliche soziale, politische, wirtschaftliche Probleme, aber nicht dieselben Folgeentwicklungen?
(a) Verschiedene geschichtliche Kontexte und Ausgangslagen:
Bsp. Südamerika: Dort gibt es bereits seit ca. 450 Jahren massivste Einmischung westlicher Mächte, die alle Bereiche des Lebens betroffen haben und noch betreffen; diese Einmischungen – wenn man die meist ganz radikale De-Autochthonisierung, den Genozid an den Einheimischen und die parallele, jahrhundertelange Neuprägung nach westlichen (zunächst meist katholischen) Mustern so nennen kann – haben in Südamerika längst dazu geführt, daß keine nicht-westliche einer westlichen Ideologie so einfach und so pointiert gegenübergestellt werden kann, wie das noch in der arabischen (und weiteren islamischen) Welt getan werden kann.
Historisch bestimmender Faktor hierfür in der arabischen Welt ist dies:
Trotz all dem Kolonialismus, den die arabische Welt zwischen ca. 1830 und 1950 (mancherorts länger) über sich ergehen lassen mußte, gehört dieser Weltteil dennoch zu den insgesamt am kürzesten von westlichen Mächten direkt kontrollierten Weltteilen. Einige heutige Staaten, etwa Syrien oder Jordanien, wurden noch bis in 20. Jh. vom Osmanischen Reich verwaltet. Die Beeinflussung des inneren (kulturellen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen usw.usw.) Lebens der arabischen Länder war in diesem relativ kurzen Zeitraum nicht so durchgreifend wie z.B. in Südamerika; selbst Indonesien hatte schon 200 Jahre holländischen Kolonialismus hinter sich, bevor größere Gebiete der arabischen Welt unter den direkten Einfluß des Westens gerieten. Außerdem gab es in der arabischen Welt ja auch danach praktisch überall einheimische Eliten, die die westliche Politik mehr oder weniger als "Statthalter" umsetzten; die Länder Südamerikas waren zu keinem Zeitpunkt Kolonien oder "Mandatsgebiete" in diesem Sinn, sondern von vorneherein Länder mit einer Elite, deren Machtausübung keinerlei Bedarf an einheimischer Beteiligung hatte (Lassen wir hier das komplexe Thema beiseite, daß sich natürlich in den südamerikanischen Ländern diese zunächst von außen kommende – Spanien, Portugal usw. – Elite irgendwann als "einheimische" Elite fühlte und entsprechend anders zu handeln begann).
Mit alldem zusammenhängender Faktor:
Die grundsätzlich konfliktträchtige, weil von außen aufgezwungene Neuorientierung der eigenen Kultur und Gesellschaft dank der neuzeitlichen Globalisierung (die ja im wesentlichen westliche "Werte" transportiert) begann in Südamerika schon bald nach dem Eintreffen der ersten Europäer, während sich diese Neuorientierung -- die auf der Ebene des Einzelnen zunächst oft zu Verwirrung, Verunsicherung, dann möglicherweise zu einem Rückzug auf gefestigte Positionen der eigenen oder jedenfalls einer alternativen Kultur führt -- in den arabischen Ländern bei den breiten Schichten der Bevölkerung nicht vor den 1950er Jahren feststellen läßt (Ausnahme: christliche Bevölkerung im Libanon, dort ab ca. 1850).
Außerdem: Viele Staaten Südamerikas haben in den letzten 150 Jahren große Teile einer Europa-stämmigen Bevölkerung erworben, während die arabischen Länder in dieser Zeit durch Einwanderung praktisch keine Änderung ihrer Bevölkerungsstruktur erfahren haben, schon gar nicht aus dem Westen.
(b) Verschiedene kulturelle Voraussetzungen:
Bsp. Südafrika: Der Unterschied zwischen Südafrika (wie auch dem weiteren schwarzen sub-saharischen Afrika) und der arabischen Welt ist, daß in der arabischen Welt zum Zeitpunkt des direkten Eingreifens westlicher Kolonialmächte bereits seit mehr als 1200 Jahren eine Hochkultur bestand, die ausgefeilte politische Theorien, ideologische Begründungszusammenhänge und der westlichen Werteordnung im Prinzip ebenbürtige Wertesysteme entwickelt hatte, etwas, wofür es im schwarzen Teil Afrikas einfach kein Gegenstück gab.
– Ich weiß, ich weiß!! In diesem Punkt diskutiere ich häufig mit Afrikanisten und Ethnologen und muß von ihnen Schelte beziehen: Ich will also nicht sagen, daß eine Hochkultur anderen Kulturformen überlegen sei usw.usw., ich möchte aber sagen, daß es Hochkulturen gibt -- das sind auf Verschriftung, systematischer Archivierung und der Teilnahme von professionell tätigen Kulturträgern basierende Sinnwelten, deren Inhalte jahrhundertlang verfeinert und bis in alle Details vernetzt und ausgearbeitet werden -- und daß in der arabischen Welt in vielen Jahrhunderten ebensolche hochkomplexen ideologischen Systeme im Sinn einer Hochkultur entwickelt worden waren – nämlich im Rahmen des Islam –, mit denen man dann den Kampf mit anderen, konkurrierenden Systemen (etwa den westlichen) schnell und gut vorbereitet aufnehmen konnte. Dies war und ist in Schwarzafrika nirgends der Fall, und mehr will ich auch nicht sagen.
Diese ideologische Vorbereitung, wenn man sie so nennen will, ist natürlich auch dafür verantwortlich, daß sich der Islamismus als Alternativmodell zur westlichen Weltsicht entwickeln konnte, wobei ja der Islam bekanntlich eine sehr politische und gesellschaftsbezogene Religion ist, was erleichternd hinzukommt, wenn man sich gegen konkurrierende (oder als Bedrohung empfundene) Wertesysteme zur Wehr setzen will. – Den Unterschied zwischen der Situation in Südafrika und dem von der islamischen Welt stark beeinflußten Afrika kann man etwa in Nigeria sehen. Das ist eine andere Geschichte.
(c) Die Rolle des Islam:
Im Gegensatz zu Südafrika (wo es zwar inzwischen durch Einwanderung nicht wenige Muslime gibt, aber eben keinen historisch gewachsenen Islam) und Südamerika ist nun in den arabischen Ländern der Islam die dominierende Religion. Und es gibt einen Faktor, der, wie ich meine, im Verhältnis der arabischen/islamischen Welt mit dem Westen durchaus ganz verhängnisvoll ist, und von dem ich glaube, daß er ganz entscheidend ist für die jetzige tragische und verfahrene Situation:
Judentum, Christentum und Islam sind entwicklungsgeschichtlich ("genetisch") voneinander abhängig, und zwar in jeweils polemischer Art und Weise gegenüber der vorhergehenden Religion (oder den .. Religionen).
Der Islam kommt bekanntlich zuletzt, und definiert sich zu einem Gutteil einerseits aus einer Oppositions- haltung gegenüber den bereits älteren J und Chr - ist also als Kritik negativ -, anderseits aus einer Überwindung von J und Chr - ist also durch neue Inhalte positiv.
Das heißt: Man warf einerseits J und Chr vor, sie hätten die wahre Religion Gottes auf Erden verraten, verfälscht usw. und der islamische Glaube, eine neue, sozusagen „korrigierende“ Offenbarung Gottes, müsse dies nun richtigstellen. Andererseits kam es doch bis in die Neuzeit alles in allem nur zu wenigen ernsthaften Auseinandersetzungen mit J und Chr aus religiösen Gründen, weil der offensichtliche weltliche und auch theologische Erfolg die Muslime in ihrer Haltung bestätigte, daß Gott tatsächlich mit ihnen sei. Die große Kultur des Islam, die sich in wenigen Jahrhunderten vom Atlantik bis zum Indusdelta ausbreitete, wurde von den Muslimen immer als Beweis für ihre Überlegenheit angesehen. Auch die islamisch-christliche Streitkultur wurde bis ins 19. Jahrhundert fast nur von der christlichen Seite geführt ... die Muslime sahen dazu gar keinen Anlaß.
Was passiert nun in der Moderne?
Um es knapp zu sagen: Im 19. Jahrhundert, nach den ersten direkten Kontakten mit der westlichen Welt (erstmalig bei der französischen Besetzung Ägyptens 1798), dämmert es vielen Muslimen, daß von ihrer bis dahin als fraglos akzeptierten Überlegenheit nichts mehr übrig zu sein schien. Daraufhin gibt es ab ca. 1840 mehrere Bewegungen. Die wichtigsten: die Erneuerung des Islam (an-Nahdah), um den vermeintlichen Vorsprung des Westens aufzuholen; die totale Übernahme aller „westlichen Errungenschaften“, um sich selbst voranzubringen, und zwar ganz ohne ideologische Beiklänge (zB. unter Muhammad Alî in Ägypten).
Bis zum heutigen Tag ist es aber so, daß die gefühlte (und in rein technischer und zivilisatorischer Hinsicht jedenfalls auch reale) Unterlegenheit der arabischen Welt gegenüber dem Westen nicht abgenommen, sondern eher zugenommen hat. Dazu kommt dann noch die politische Geschichte, die zweifellos den Arabern ab ca. 1917 übel mitgespielt hat.
Resultat:
Leute, deren hergebrachte und seit über 1200 Jahren sehr erfolgreiche Religion die eigene Überlegenheit propagiert, leben seit ca. 150 Jahren in einer Situation, in der sie sich als Verlierer der Geschichte sehen.
Dies auch im Unterschied zu Südamerika und Südafrika: In Südamerika ist diese Aufarbeitung der Einsicht, Verlierer der Geschichte zu sein, schon seit Jahrhunderten im Gang; trotzdem schwelen dort ja noch viele Konflikte, und ungelöste Probleme sind allerorten. In Südafrika (wie auch im weiteren nicht-islamischen Schwarzafrika) sehen sich die Bewohner ebenfalls als Verlierer der Geschichte, haben aber kein inzwischen 1400+ Jahre altes, hochkomplexes ideologisches Wertesystem zur Verfügung, das sie selbst entwickelt haben, das genetisch mit der westlichen Weltsicht verbunden ist (wie der Islam) und auf welches sie sich zurückziehen und berufen können.
Dieser offensichtliche Konflikt zwischen Weltsicht und Realität ist so gewaltig, daß er zu allen möglichen extremistischen Haltungen und zu einer Bereitschaft zur bedingungslosen Gewalt bei einigen Gruppen in der arabischen / islamischen Welt führt, zugleich auch oft zu einem ganz bedingungslosen und unkritischen Rückzug auf eigene (in diesem Fall eben "islamische") Positionen. Die Konfliktträchtigkeit wird dadurch potenziert, daß es sich beim Islam eben um eine Religion handelt, die schon von ihrer Entstehung und von ihrer Selbstdefinition her mit dem J und Chr „verbandelt“ ist und somit umso bessere Argumente gegen die westliche (= jüdische und christliche) Weltsicht liefern kann.
Welche Schwierigkeiten z.B. die Südamerikaner in dieser Hinsicht haben, sieht man daran, daß sie auf keine "eigene" Ideologie/Religion zurückgreifen können, sondern im Kampf gegen westliche Mächte usw. opponierende Ideologien aus eben bereits westlichen bzw. christlichen Ideologien / Religionen erst herstellen müssen: Kommunismus (Leuchtender Pfad, anti-imperialistische Indio-Bewegungen), Christentum (Befreiungstheologie). Die Muslime haben ihre eigene Weltsicht schon seit 1400 Jahren entwickelt und können nun darauf zurückgreifen.
Noch zwei Anmerkungen am Schluß:
(1) Das islamische Wertesystem, wie es sich in den letzten 1400 Jahren entwickelt hat, war bis ins 19. Jahrhundert zwar theoretisch gegen J und Chr gerichtet, in der Praxis spielten aber diese Faktoren kaum eine Rolle (noch nicht einmal während der Kreuzzüge im Osten oder der Reconquista in al-Andalus); deshalb war die islamische Kultur an den meisten Orten und zu den meisten Zeiten auch ausgesprochen tolerant: Die Gewißheit der eigenen Überlegenheit, die ja auch von der Realität bestätigt wurde, ließ die Auseinandersetzung mit J und Chr im wesentlichen als überflüssig und müßig erscheinen; bis ins 19. Jh. waren kaum jemandem in der islamischen Welt die gegen J und Chr gerichteten Elemente im Islam wichtig.
Ihre heutige Sprengkraft und inhaltliche Dominanz erhielten die dezidiert mit J und Chr verbundenen, sich gegen diese richtenden Elemente in der islamischen Welt erst in den letzten ca. 100 Jahren, im Rahmen des Islamismus sogar erst in den letzten ca. 50 Jahren (mit ersten Anfängen in den 1920er Jahren).
(2) Den Konflikt zwischen einer Ideologie, welche die eigene Überlegenheit als gegeben und als letztgültige Wahrheit ansieht, und einer Realität, welche diese Überlegenheit als nicht existierend oder doch wenigstens als bedroht erscheinen läßt, erleben nicht nur die Araber. Diesen Konflikt erlebt in ganz gleicher Weise auch die US-amerikanische und westliche sogenannte "Wertegemeinschaft" seit dem 11. September. Der ganze unsägliche und aggressive und mit hochgerüsteten Armeen gnadenlos ins Werk gesetzte Imperialismus, der seit Entstehen dieses Konflikts die westliche Haltung gegenüber der als Bedrohung empfundenen islamischen Welt kennzeichnet, zeigt mehr als deutlich, daß dieser Konflikt zwischen den Überlegenheitsvorgaben der eigenen Ideologie und der Realität ganz rasch zu Radikalisierung und Extremisierung führen kann, ja noch viel rascher eigentlich, als man es annehmen würde, wenn man statt auf die westliche Welt allein auf die islamische Welt blicken würde!
Zum Vorhergenden, und zu dem, was du dich weiter oben gefragt hast, warum vieles so "nur in den arabischen Staaten" passiert. Hier der Versuch einer Antwort mit einigen Überlegungen, die ich hierzu für wichtig halte. Also:
Warum gibt es in verschiedenen außereuropäischen Ländern auf verschiedenen Kontinenten ähnliche soziale, politische, wirtschaftliche Probleme, aber nicht dieselben Folgeentwicklungen?
(a) Verschiedene geschichtliche Kontexte und Ausgangslagen:
Bsp. Südamerika: Dort gibt es bereits seit ca. 450 Jahren massivste Einmischung westlicher Mächte, die alle Bereiche des Lebens betroffen haben und noch betreffen; diese Einmischungen – wenn man die meist ganz radikale De-Autochthonisierung, den Genozid an den Einheimischen und die parallele, jahrhundertelange Neuprägung nach westlichen (zunächst meist katholischen) Mustern so nennen kann – haben in Südamerika längst dazu geführt, daß keine nicht-westliche einer westlichen Ideologie so einfach und so pointiert gegenübergestellt werden kann, wie das noch in der arabischen (und weiteren islamischen) Welt getan werden kann.
Historisch bestimmender Faktor hierfür in der arabischen Welt ist dies:
Trotz all dem Kolonialismus, den die arabische Welt zwischen ca. 1830 und 1950 (mancherorts länger) über sich ergehen lassen mußte, gehört dieser Weltteil dennoch zu den insgesamt am kürzesten von westlichen Mächten direkt kontrollierten Weltteilen. Einige heutige Staaten, etwa Syrien oder Jordanien, wurden noch bis in 20. Jh. vom Osmanischen Reich verwaltet. Die Beeinflussung des inneren (kulturellen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen usw.usw.) Lebens der arabischen Länder war in diesem relativ kurzen Zeitraum nicht so durchgreifend wie z.B. in Südamerika; selbst Indonesien hatte schon 200 Jahre holländischen Kolonialismus hinter sich, bevor größere Gebiete der arabischen Welt unter den direkten Einfluß des Westens gerieten. Außerdem gab es in der arabischen Welt ja auch danach praktisch überall einheimische Eliten, die die westliche Politik mehr oder weniger als "Statthalter" umsetzten; die Länder Südamerikas waren zu keinem Zeitpunkt Kolonien oder "Mandatsgebiete" in diesem Sinn, sondern von vorneherein Länder mit einer Elite, deren Machtausübung keinerlei Bedarf an einheimischer Beteiligung hatte (Lassen wir hier das komplexe Thema beiseite, daß sich natürlich in den südamerikanischen Ländern diese zunächst von außen kommende – Spanien, Portugal usw. – Elite irgendwann als "einheimische" Elite fühlte und entsprechend anders zu handeln begann).
Mit alldem zusammenhängender Faktor:
Die grundsätzlich konfliktträchtige, weil von außen aufgezwungene Neuorientierung der eigenen Kultur und Gesellschaft dank der neuzeitlichen Globalisierung (die ja im wesentlichen westliche "Werte" transportiert) begann in Südamerika schon bald nach dem Eintreffen der ersten Europäer, während sich diese Neuorientierung -- die auf der Ebene des Einzelnen zunächst oft zu Verwirrung, Verunsicherung, dann möglicherweise zu einem Rückzug auf gefestigte Positionen der eigenen oder jedenfalls einer alternativen Kultur führt -- in den arabischen Ländern bei den breiten Schichten der Bevölkerung nicht vor den 1950er Jahren feststellen läßt (Ausnahme: christliche Bevölkerung im Libanon, dort ab ca. 1850).
Außerdem: Viele Staaten Südamerikas haben in den letzten 150 Jahren große Teile einer Europa-stämmigen Bevölkerung erworben, während die arabischen Länder in dieser Zeit durch Einwanderung praktisch keine Änderung ihrer Bevölkerungsstruktur erfahren haben, schon gar nicht aus dem Westen.
(b) Verschiedene kulturelle Voraussetzungen:
Bsp. Südafrika: Der Unterschied zwischen Südafrika (wie auch dem weiteren schwarzen sub-saharischen Afrika) und der arabischen Welt ist, daß in der arabischen Welt zum Zeitpunkt des direkten Eingreifens westlicher Kolonialmächte bereits seit mehr als 1200 Jahren eine Hochkultur bestand, die ausgefeilte politische Theorien, ideologische Begründungszusammenhänge und der westlichen Werteordnung im Prinzip ebenbürtige Wertesysteme entwickelt hatte, etwas, wofür es im schwarzen Teil Afrikas einfach kein Gegenstück gab.
– Ich weiß, ich weiß!! In diesem Punkt diskutiere ich häufig mit Afrikanisten und Ethnologen und muß von ihnen Schelte beziehen: Ich will also nicht sagen, daß eine Hochkultur anderen Kulturformen überlegen sei usw.usw., ich möchte aber sagen, daß es Hochkulturen gibt -- das sind auf Verschriftung, systematischer Archivierung und der Teilnahme von professionell tätigen Kulturträgern basierende Sinnwelten, deren Inhalte jahrhundertlang verfeinert und bis in alle Details vernetzt und ausgearbeitet werden -- und daß in der arabischen Welt in vielen Jahrhunderten ebensolche hochkomplexen ideologischen Systeme im Sinn einer Hochkultur entwickelt worden waren – nämlich im Rahmen des Islam –, mit denen man dann den Kampf mit anderen, konkurrierenden Systemen (etwa den westlichen) schnell und gut vorbereitet aufnehmen konnte. Dies war und ist in Schwarzafrika nirgends der Fall, und mehr will ich auch nicht sagen.
Diese ideologische Vorbereitung, wenn man sie so nennen will, ist natürlich auch dafür verantwortlich, daß sich der Islamismus als Alternativmodell zur westlichen Weltsicht entwickeln konnte, wobei ja der Islam bekanntlich eine sehr politische und gesellschaftsbezogene Religion ist, was erleichternd hinzukommt, wenn man sich gegen konkurrierende (oder als Bedrohung empfundene) Wertesysteme zur Wehr setzen will. – Den Unterschied zwischen der Situation in Südafrika und dem von der islamischen Welt stark beeinflußten Afrika kann man etwa in Nigeria sehen. Das ist eine andere Geschichte.
(c) Die Rolle des Islam:
Im Gegensatz zu Südafrika (wo es zwar inzwischen durch Einwanderung nicht wenige Muslime gibt, aber eben keinen historisch gewachsenen Islam) und Südamerika ist nun in den arabischen Ländern der Islam die dominierende Religion. Und es gibt einen Faktor, der, wie ich meine, im Verhältnis der arabischen/islamischen Welt mit dem Westen durchaus ganz verhängnisvoll ist, und von dem ich glaube, daß er ganz entscheidend ist für die jetzige tragische und verfahrene Situation:
Judentum, Christentum und Islam sind entwicklungsgeschichtlich ("genetisch") voneinander abhängig, und zwar in jeweils polemischer Art und Weise gegenüber der vorhergehenden Religion (oder den .. Religionen).
Der Islam kommt bekanntlich zuletzt, und definiert sich zu einem Gutteil einerseits aus einer Oppositions- haltung gegenüber den bereits älteren J und Chr - ist also als Kritik negativ -, anderseits aus einer Überwindung von J und Chr - ist also durch neue Inhalte positiv.
Das heißt: Man warf einerseits J und Chr vor, sie hätten die wahre Religion Gottes auf Erden verraten, verfälscht usw. und der islamische Glaube, eine neue, sozusagen „korrigierende“ Offenbarung Gottes, müsse dies nun richtigstellen. Andererseits kam es doch bis in die Neuzeit alles in allem nur zu wenigen ernsthaften Auseinandersetzungen mit J und Chr aus religiösen Gründen, weil der offensichtliche weltliche und auch theologische Erfolg die Muslime in ihrer Haltung bestätigte, daß Gott tatsächlich mit ihnen sei. Die große Kultur des Islam, die sich in wenigen Jahrhunderten vom Atlantik bis zum Indusdelta ausbreitete, wurde von den Muslimen immer als Beweis für ihre Überlegenheit angesehen. Auch die islamisch-christliche Streitkultur wurde bis ins 19. Jahrhundert fast nur von der christlichen Seite geführt ... die Muslime sahen dazu gar keinen Anlaß.
Was passiert nun in der Moderne?
Um es knapp zu sagen: Im 19. Jahrhundert, nach den ersten direkten Kontakten mit der westlichen Welt (erstmalig bei der französischen Besetzung Ägyptens 1798), dämmert es vielen Muslimen, daß von ihrer bis dahin als fraglos akzeptierten Überlegenheit nichts mehr übrig zu sein schien. Daraufhin gibt es ab ca. 1840 mehrere Bewegungen. Die wichtigsten: die Erneuerung des Islam (an-Nahdah), um den vermeintlichen Vorsprung des Westens aufzuholen; die totale Übernahme aller „westlichen Errungenschaften“, um sich selbst voranzubringen, und zwar ganz ohne ideologische Beiklänge (zB. unter Muhammad Alî in Ägypten).
Bis zum heutigen Tag ist es aber so, daß die gefühlte (und in rein technischer und zivilisatorischer Hinsicht jedenfalls auch reale) Unterlegenheit der arabischen Welt gegenüber dem Westen nicht abgenommen, sondern eher zugenommen hat. Dazu kommt dann noch die politische Geschichte, die zweifellos den Arabern ab ca. 1917 übel mitgespielt hat.
Resultat:
Leute, deren hergebrachte und seit über 1200 Jahren sehr erfolgreiche Religion die eigene Überlegenheit propagiert, leben seit ca. 150 Jahren in einer Situation, in der sie sich als Verlierer der Geschichte sehen.
Dies auch im Unterschied zu Südamerika und Südafrika: In Südamerika ist diese Aufarbeitung der Einsicht, Verlierer der Geschichte zu sein, schon seit Jahrhunderten im Gang; trotzdem schwelen dort ja noch viele Konflikte, und ungelöste Probleme sind allerorten. In Südafrika (wie auch im weiteren nicht-islamischen Schwarzafrika) sehen sich die Bewohner ebenfalls als Verlierer der Geschichte, haben aber kein inzwischen 1400+ Jahre altes, hochkomplexes ideologisches Wertesystem zur Verfügung, das sie selbst entwickelt haben, das genetisch mit der westlichen Weltsicht verbunden ist (wie der Islam) und auf welches sie sich zurückziehen und berufen können.
Dieser offensichtliche Konflikt zwischen Weltsicht und Realität ist so gewaltig, daß er zu allen möglichen extremistischen Haltungen und zu einer Bereitschaft zur bedingungslosen Gewalt bei einigen Gruppen in der arabischen / islamischen Welt führt, zugleich auch oft zu einem ganz bedingungslosen und unkritischen Rückzug auf eigene (in diesem Fall eben "islamische") Positionen. Die Konfliktträchtigkeit wird dadurch potenziert, daß es sich beim Islam eben um eine Religion handelt, die schon von ihrer Entstehung und von ihrer Selbstdefinition her mit dem J und Chr „verbandelt“ ist und somit umso bessere Argumente gegen die westliche (= jüdische und christliche) Weltsicht liefern kann.
Welche Schwierigkeiten z.B. die Südamerikaner in dieser Hinsicht haben, sieht man daran, daß sie auf keine "eigene" Ideologie/Religion zurückgreifen können, sondern im Kampf gegen westliche Mächte usw. opponierende Ideologien aus eben bereits westlichen bzw. christlichen Ideologien / Religionen erst herstellen müssen: Kommunismus (Leuchtender Pfad, anti-imperialistische Indio-Bewegungen), Christentum (Befreiungstheologie). Die Muslime haben ihre eigene Weltsicht schon seit 1400 Jahren entwickelt und können nun darauf zurückgreifen.
Noch zwei Anmerkungen am Schluß:
(1) Das islamische Wertesystem, wie es sich in den letzten 1400 Jahren entwickelt hat, war bis ins 19. Jahrhundert zwar theoretisch gegen J und Chr gerichtet, in der Praxis spielten aber diese Faktoren kaum eine Rolle (noch nicht einmal während der Kreuzzüge im Osten oder der Reconquista in al-Andalus); deshalb war die islamische Kultur an den meisten Orten und zu den meisten Zeiten auch ausgesprochen tolerant: Die Gewißheit der eigenen Überlegenheit, die ja auch von der Realität bestätigt wurde, ließ die Auseinandersetzung mit J und Chr im wesentlichen als überflüssig und müßig erscheinen; bis ins 19. Jh. waren kaum jemandem in der islamischen Welt die gegen J und Chr gerichteten Elemente im Islam wichtig.
Ihre heutige Sprengkraft und inhaltliche Dominanz erhielten die dezidiert mit J und Chr verbundenen, sich gegen diese richtenden Elemente in der islamischen Welt erst in den letzten ca. 100 Jahren, im Rahmen des Islamismus sogar erst in den letzten ca. 50 Jahren (mit ersten Anfängen in den 1920er Jahren).
(2) Den Konflikt zwischen einer Ideologie, welche die eigene Überlegenheit als gegeben und als letztgültige Wahrheit ansieht, und einer Realität, welche diese Überlegenheit als nicht existierend oder doch wenigstens als bedroht erscheinen läßt, erleben nicht nur die Araber. Diesen Konflikt erlebt in ganz gleicher Weise auch die US-amerikanische und westliche sogenannte "Wertegemeinschaft" seit dem 11. September. Der ganze unsägliche und aggressive und mit hochgerüsteten Armeen gnadenlos ins Werk gesetzte Imperialismus, der seit Entstehen dieses Konflikts die westliche Haltung gegenüber der als Bedrohung empfundenen islamischen Welt kennzeichnet, zeigt mehr als deutlich, daß dieser Konflikt zwischen den Überlegenheitsvorgaben der eigenen Ideologie und der Realität ganz rasch zu Radikalisierung und Extremisierung führen kann, ja noch viel rascher eigentlich, als man es annehmen würde, wenn man statt auf die westliche Welt allein auf die islamische Welt blicken würde!
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noergler,
Donnerstag, 27. Juli 2006, 11:23
"Konflikt zwischen den Überlegenheitsvorgaben der eigenen Ideologie und der Realität ganz rasch zu Radikalisierung und Extremisierung führen kann"
Gut gesehen! Hieraus ist viel erklärbar, was zunächst nur staunend wahrgenommen werden konnte. Um es erkenntnistheoretisch in einer Metapher auszudrücken: Man hat wirr verstreute Eisenspäne auf dem Tisch, aber wenn man einen Magneten in die Mitte hält, ordnen sie sich. Du hast diesen Magneten bereitgestellt. Sehr gut! (Hätte ich selber drauf kommen müssen, grrrr ..)
Wenn die einschlägigen Webseiten das Bombenschmeißen auf Kindergärten nicht mehr leugnen, sondern begrüßen, fühlt sich das erst mal an, wie ein Posting aus der Irrenanstalt, was freilich soviel erklärt, wie die Erklärung, der Kriminelle sei eben wegen seiner kriminellen Energie kriminell.
Der von Dir analysierte Konflikt hingegen erklärt es wirklich. Er erklärt beispielsweise auch, warum die Neos in den USA derzeit den armen GWB bashen:
Der hatte sich zunächst für den Rest der Welt nicht interessiert, weil der Kampf eines trockenen Alkoholikers für die Aufrechterhaltung der Abstinenz den Alkoholiker vollbeschäftigt. Für Brezelessen ohne Eigengefährdung, für sinnvolle Sätze und Radfahren ohne runterzufallen waren da keine Valenzen mehr frei, geschweige denn für aktive Außenpolitik.
Die Welt atmete auf. Dann aber hat Osama ihm in seinem Sandkasten die Türmchen umgeschmissen, weil Osama die kognitive Dissonanz von Überlegenheitswahn und Realität nicht mehr aushalten konnte.
Daraufhin mußte GWB, gefrustet aus dem gleichen Grund, freies Denken, freie Märkte und freie Menschen in den Irak bringen. Die Nummer funzt aber nicht, weil die Befreiten ihre Befreier umbringen.
Jetzt macht GWB etwas, das man ihm nicht zugetraut hätte. Ich nenne es Lernen durch Realität. Er läßt es ruhiger angehen. Prompt fallen die Realitätsverleugner im eigenen Land über ihn her und werfen ihm vor, daß er die ideologischen Überlegenheitsvorgaben verrät.
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,428576,00.html
Schwierig für GWB: Außer der Gewaltoption hat er außenpolitisch nichts entwickelt, auf das er in diesem Streit zurückgreifen könnte.
Ich bin gespannt, wie es weitergeht.
Jedenfalls ein starker Beitrag von truthcomeslast.
Gut gesehen! Hieraus ist viel erklärbar, was zunächst nur staunend wahrgenommen werden konnte. Um es erkenntnistheoretisch in einer Metapher auszudrücken: Man hat wirr verstreute Eisenspäne auf dem Tisch, aber wenn man einen Magneten in die Mitte hält, ordnen sie sich. Du hast diesen Magneten bereitgestellt. Sehr gut! (Hätte ich selber drauf kommen müssen, grrrr ..)
Wenn die einschlägigen Webseiten das Bombenschmeißen auf Kindergärten nicht mehr leugnen, sondern begrüßen, fühlt sich das erst mal an, wie ein Posting aus der Irrenanstalt, was freilich soviel erklärt, wie die Erklärung, der Kriminelle sei eben wegen seiner kriminellen Energie kriminell.
Der von Dir analysierte Konflikt hingegen erklärt es wirklich. Er erklärt beispielsweise auch, warum die Neos in den USA derzeit den armen GWB bashen:
Der hatte sich zunächst für den Rest der Welt nicht interessiert, weil der Kampf eines trockenen Alkoholikers für die Aufrechterhaltung der Abstinenz den Alkoholiker vollbeschäftigt. Für Brezelessen ohne Eigengefährdung, für sinnvolle Sätze und Radfahren ohne runterzufallen waren da keine Valenzen mehr frei, geschweige denn für aktive Außenpolitik.
Die Welt atmete auf. Dann aber hat Osama ihm in seinem Sandkasten die Türmchen umgeschmissen, weil Osama die kognitive Dissonanz von Überlegenheitswahn und Realität nicht mehr aushalten konnte.
Daraufhin mußte GWB, gefrustet aus dem gleichen Grund, freies Denken, freie Märkte und freie Menschen in den Irak bringen. Die Nummer funzt aber nicht, weil die Befreiten ihre Befreier umbringen.
Jetzt macht GWB etwas, das man ihm nicht zugetraut hätte. Ich nenne es Lernen durch Realität. Er läßt es ruhiger angehen. Prompt fallen die Realitätsverleugner im eigenen Land über ihn her und werfen ihm vor, daß er die ideologischen Überlegenheitsvorgaben verrät.
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,428576,00.html
Schwierig für GWB: Außer der Gewaltoption hat er außenpolitisch nichts entwickelt, auf das er in diesem Streit zurückgreifen könnte.
Ich bin gespannt, wie es weitergeht.
Jedenfalls ein starker Beitrag von truthcomeslast.
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rayson,
Donnerstag, 27. Juli 2006, 15:10
@truthcomeslast
Wer nicht fragt, bleibt dumm. Aber eine solche "tour d'horizon" hatte ich nun wirklich nicht erwartet. Sehr interessant und schlüssig. Vielen Dank!
Wer nicht fragt, bleibt dumm. Aber eine solche "tour d'horizon" hatte ich nun wirklich nicht erwartet. Sehr interessant und schlüssig. Vielen Dank!
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